Rimini

Österreich/D/F 2022 · 116 min. · FSK: ab 12
Regie: Ulrich Seidl
Drehbuch: ,
Kamera: Wolfgang Thaler
Darsteller: Michael Thomas, Hans-Michael Rehberg, Georg Friedrich, Natalija Baranova, Silvana Sansoni u.a.
Filmszene »Rimini«
Vor- und Nachsaison in einem...
(Foto: NEUE VISIONEN)

Sängerglück in Bella Italia?

Ulrich Seidls neuer Film und diesjähriger Berlinalebeitrag schwimmt etwas ziellos zwischen seinen Themen, Stilrichtungen und Figuren umher und wagt ein bisschen mehr Spielfilm als sonst

»Die Zeit mag Wunden heilen, aber sie ist eine miserable Kosme­ti­kerin.« – Mark Twain

Rimini im Winter bildet die Kulisse für den abge­half­terten Schla­ger­star Richie Bravo. Der einstige touris­ti­sche Bade-Sehn­suchtsort ist hier im Dauer­regen oder arktisch abweisend zu sehen und zeigt das trostlose Gesicht aller saisonal still­ge­legten Badeorte. Die einzigen Menschen, die man außerhalb der wenigen geöff­neten Hotels zu sehen bekommt, sind obdach­lose Flücht­linge. In verschie­denen tristen Foyers beglückt hier Richie Bravo das vorwie­gend weibliche Senio­ren­pu­blikum mit seinen italie­nisch-deutschen Schlagern à la »Amore mio« im Halb­play­back und zeigt sich dann gesellig an der Hotelbar. Ein Star zum Anfassen im buchs­täb­lichsten Sinne, denn eine Neben­ein­nah­me­quelle für Richie ist der käufliche Sex mit seinen Fans.

Ulrich Seidl und Veronika Franz erzählen uns die Geschichte eines Schla­ger­sän­gers, der wohl schon bessere Tage gesehen hat und sich jetzt als Ein-Mann-Unter­nehmen mühsam, mit viel Alkohol, aber mit routi­nierter Verve über Wasser hält. Im typisch doku­men­ta­risch anmu­tenden Seidl-Stil gefilmt sehen wir dem famosen Michael Thomas, der die Rolle des Richie Bravo zu hundert Prozent glaub­würdig ausfüllt und von seiner Statur her etwas an Mickey Rourke in The Wrestler erinnert, bei seiner anstren­genden Star­il­lu­si­ons­pro­du­zie­rung zu. Mit ölig wiene­ri­schem Charme, seiner kräftigen Stimme und seiner mächtigen Körper­prä­senz (Thomas war, wie Rourke, eine zeitlang Boxer) arbeitet er sich an seinem teilweise wie leblos daho­ckenden Publikum ab. Selbiges gilt für seine schwer bemühten Sexdienst­leis­tungen. Richie redet und singt viel von der Liebe, tut aber recht wenig dafür, diese in seinem Leben zu entfalten. Während The Wrestler eine ergrei­fende Charak­ter­studie ist, ist Rimini, zumindest im ersten Teil, eher eine unfrei­willig komische Sozi­al­studie – auch das ist bei Ulrich Seidl nicht neu. Ist das Fremd­schämen auf Kosten alter Schla­ger­fans und ihres eher pein­li­chen Stars oder eine nüchterne Bestands­auf­nahme einer sozio­lo­gi­schen Nische? Vermut­lich beides.

Aller­dings gibt es in diesem Film, der zusammen mit dem gleich­zeitig abge­drehten Sparta als Doppel­pro­jekt angelegt ist, auch fast richtige Spiel­film­se­quenzen, eine Rahmen­hand­lung und einen Wende­punkt – also fast schon so etwas wie eine Span­nungs­dra­ma­turgie.

Der Film beginnt mit der Beer­di­gung von Richies Mutter, zu der dieser nach Öster­reich reist. Während wir seinen Bruder Ewald (Georg Friedrich) nur kurz bei der durch­zechten Nacht vor der Beer­di­gung kennen­lernen – dies sind im Film mit die witzigsten Szenen –, bekommt der Vater (Hans-Michael Rehberg) etwas mehr Platz im Drehbuch. Er lebt demenz­krank in einem Pfle­ge­heim und stimmt an einer Stelle ein altes Nazi-Lied an, das sein Sohn mit »Amore mio« zu übertönen versucht. Alles in allem eine dysfunk­tio­nale Familie, in der es wenig Zuneigung und Verbin­dung gibt, über die man aller­dings auch recht wenig Erhel­lendes erfährt. Dazu passt auch – Vorsicht: Wende­punkt und Spiel­film­an­teil – das plötz­liche Auftau­chen der Tochter Richies in Rimini. Tessa (Tessa Gött­li­cher) kommt zusammen mit ihrem schweig­samen Freund und will nach vielen Jahren der Abwe­sen­heit des Vaters einfach nur Geld, was den klammen Schla­ger­sänger vor größere Probleme stellt.

Immer verzwei­felter versucht er mit zunehmend unmo­ra­li­schen Mitteln das Geld aufzu­treiben, was unschöne Seiten seines Charak­ters hervor­bringt und die Handlung ankurbelt. Trotzdem wirkt die Vater-Tochter-Handlung wie ein Fremd­körper im Film. Der Sprung zum emotio­nalen Spielfilm misslingt. Auch zeigen die Gespräche zwischen Vater und Tochter leider nicht nur dem Drehbuch, sondern auch den Schau­spie­lern ihre Grenzen auf. Wurde hier viel impro­vi­siert? Ist der Text im Drehbuch so dürftig? So oder so wirken die Szenen unecht, aufge­setzt und schlecht gespielt. Seltsamer Höhepunkt der neuen Beziehung der beiden ist ein Solo­kon­zert Richies allein für seine Tochter, bei dem er ausge­rechnet einen Song über die Freund­schaft zwischen Winnetou und Old Shat­ter­hand singt. Winnetou war bei den Dreh­ar­beiten 2017 wohl noch kein Thema.

Auch das über­ra­schende Ende, das an dieser Stelle nicht verraten werden soll, lässt den Zuschauer dann mit vielen Frage­zei­chen ratlos zurück.

Insgesamt wirkt der Film mit seinen thema­ti­schen Schwer­punkten, der Figu­ren­kon­stel­la­tion und dem Hand­lungs­ge­füge unaus­ge­goren und ist stre­cken­weise auch zu langatmig und redundant. Was will der Film zusätz­lich zum trost­losen Altern eines Sängers à la Rex Gildo (vergleiche Rosa von Praun­heims sehens­werten Rex Gildo – Der letzte Tanz) alles unter­bringen und miter­zählen? Die Flücht­lings­krise, Demenz, Alt-Nazitum, ein dysfunk­tio­nales Fami­li­en­system? An welchen Figuren und an welchem Milieu hat das Drehbuch echtes Interesse? Viel­leicht ist die kompli­zierte und durch Corona zusätz­lich erschwerte Produk­tion des Filmes eine Erklärung für diese konzep­tio­nelle Unent­schlos­sen­heit. Ursprüng­lich sind Rimini und Sparta, der im Rahmen des Festival Inter­na­cional de Cine de San Sebastián Mitte September 2022 seine Premiere hatte und inzwi­schen viel publi­zis­ti­sche Aufmerk­sam­keit generiert hat, ein Doppel­pro­jekt über zwei Brüder – Richie und Ewald –, die zu einem großen Film zusam­men­ge­schnitten werden sollten und dann aber von Seidl getrennt wurden. Viel­leicht muss man also den zweiten Film Sparta mit dem Prot­ago­nisten Ewald abwarten, um das Gesamt­kon­zept zu verstehen.

Auf jeden Fall ist Rimini trotz seiner gnaden­losen Blicke hinter das als Event verkaufte Geschäft mit Schla­ger­reisen für Senioren im Werk von Ulrich Seidl ein unter­halt­sa­merer, wenn auch nicht so homogener und schlüs­siger Baustein. Für den großen Film- und Thea­ter­schau­spieler Hans-Michael Rehberg war es der letzte Film, in dem er mitwirkte. Auf Sparta mit dem fantas­ti­schen Georg Friedrich in der Haupt­rolle darf man gespannt sein.