Deutschland 2014 · 96 min. · FSK: ab 0 Regie: Neele Leana Vollmar Drehbuch: Christian Lerch, Neele Leana Vollmar, Andreas Bradler, Klaus Döring Kamera: Torsten Breuer Darsteller: Anton Petzold, Juri Winkler, Karoline Herfurth, Ronald Zehrfeld, Ursela Monn u.a. |
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Zwei Kinder und kein einziger dummer Gedanke. Im Hintergrund, nicht ganz unwichtig: Berlin |
»Hallo, ich bin Rico, und ich bin ein tiefbegabtes Kind.« – So lautet der Standartspruch des kleinen Rico, wenn er in seinem Kreuzberger Mietshaus spontan bei einem Nachbarn klingelt, um sich dessen Wohnung anzusehen. Das ist so charmant und so entwaffnend, dass die meisten Mieter diesem ungewöhnlichen Anliegen gerne nachkommen. Auch der Zuschauer von Rico, Oskar und die Tieferschatten erliegt schnell dem besonderen Charme dieser Kinderbuchverfilmung und nimmt von manchen kleinlichen Bedenken sehr gerne Abstand.
Rico (Anton Petzold) lebt gemeinsam mit seiner allein erziehenden Mutter (Karoline Herfurth) in einem typischen Berliner Mietshaus in Kreuzberg. Seine Mutter kümmert sich liebevoll um ihren im Denken ein wenig langsamen Sohn. Wenn Rico alleine einkaufen soll, bespricht sie für ihn ein Tonband für sein Diktiergerät mit der Wegbeschreibung. Rico muss häufiger alleine einkaufen, da seine Mutter als Barfrau in einem Nachtklub arbeitet und tagsüber schläft. Oft läuft Rico mit seinem Diktiergerät umher und erkundet die Welt. So trifft er eines Tages den kleinen Oskar (Juri Winkler) vor seinem Haus. Auch Oskar ist ein Original und trägt stets einen Helm auf dem Kopf. Im Gegensatz zu Rico ist Oskar ein hochbegabtes Kind und kennt unter anderem alle wichtigen Unfallstatistiken. Die beiden ungleichen Außenseiter freunden sich miteinander an. Als Oskar nicht zu einer Verabredung erscheint, vermutet Rico, dass sein Freund dem Kinderentführer Mr. 2000 zum Opfer gefallen ist, der die Stadt seit Wochen in Atem hält. Mit seinem Diktiergerät bewaffnet begibt sich Rico auf Spurensuche.
Neele Leana Vollmars Debütfilm Rico, Oskar und die Tieferschatten basiert auf dem gleichnamigen Buch von Andreas Steinhöfel. Der Autor hatte für sein Werk 2009 den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Kinderbuch erhalten. Die Erzählung besticht durch die gelungene Schilderung der Welt aus Kindersicht. Im Film ist diese Welt durch grelle Farben und ebenso grelle Charaktere gekennzeichnet. Das unterstützt zum einen das Märchenhafte und dient zum anderen der Visualisierung der besonderen Intensität der Wahrnehmung der Welt aus Kindersicht. Diese Wahrnehmung ist in diesem Fall zusätzlich oft äußerst skurril, da die beiden Protagonisten Rico und Oskar alles andere, als normale Durchschnittskinder sind.
Rico erscheint es oft so, als wären seine Gedanken Bingo-Kugeln, die ungeordnet durch seinen Kopf wirbeln und bei denen auch mal eine Kugel verloren geht. Aber auf seine Art ist Rico durchaus clever. Er hat zahlreiche Strategien entwickelt, um im Chaos, als das sich ihm die Welt oft darstellt, den Überblick zu behalten. So hat er stets sein Diktiergerät dabei und nimmt damit alle ihm spontan kommenden Fragen und Erkenntnisse auf. Neue Fremdwörter vermerkt Rico auf Karteikarten, auf denen er diese Begriffe in eigener kreativer Schreibweise und mit oft nur ihm logisch erscheinenden Erklärungen versieht.
Diese besondere Verbindung aus Forschergeist und leichter geistiger Trägheit trägt so manche skurrile Blüte. So sagt seine Mutter Rico eines Tages, dass die Brüste einer Frau im Laufe der Jahre »zu Opfern der Schwerkraft werden«. Rico erklärt sich das ähnlich wie Newton, damit, dass auch Äpfel oft scheinbar von alleine vom Baum auf die Erde fallen. Anders als Newton zieht er daraus den Schluss, dass dies – analog zu den mütterlichen Brüsten – etwas mit der runden Form der Äpfel zu tun haben müsse. Von da ausgehend stellt er sich das »Opfer der Schwerkraft werden« der Brüste wiederum so vor, als ob diese eines Tages wie Äpfel einfach von einer Frau ab- und zu Boden fallen würden. Solche verqueren Gedankengänge werden im Film oft anhand eingeschobener Trickfilmsequenzen visualisiert. Diese sind – wie der gesamte Film äußerst liebenswürdig – und unterstreichen auf sympathische Weise, dass der Film Rico, Oskar und die Tieferschatten oft selbst wie eine Erzählung aus einem Bilderbuch für Kinder wirkt.
Der Film hat etwas von dem Charme, der Leichtigkeit und der Skurrilität der Werke von Jean-Pierre Jeunet. Dessen Die fabelhafte Welt der Amélie (2001) war eine Liebeserklärung an die Stadt Paris, die aus der Sicht der jungen Amélie geschildert wurde und die alles »typisch Französische« stärker zelebrierte als jeder Reiseführer. Rico, Oskar und die Tieferschatten ist ebenso eine Liebeserklärung an die Stadt Berlin, seinen ranzigen Charme und seinen oft verqueren Bewohnern. Passend zur Vielfältigkeit der deutschen Hauptstadt und des Freiraumes, die sie gesellschaftlichen Abweichlern gewährt, sind Rico und Oskar spleenige und zugleich sehr liebenswürdige Charaktere.
Interessanterweise erinnert die Grundidee von Rico, Oskar und die Tieferschatten in vielen an Jean-Pierre Jeunets zeitgleich in Deutschland ins Kino kommenden neuen Film Die Karte meiner Träume, bei dem es sich ebenfalls um eine Buchverfilmung handelt. Jeunets Film erzählt die Geschichte des hochbegabten T.S. Spivets, der ein »typisches« kleines Genie ist, wie man es sich gemeinhin vorstellt. Es ist eine klassische amerikanische Geschichte vom (hier im wahrsten Sinne des Wortes) kleinen Mann, der aufgrund von Eigeninitiative und Mut entgegen aller Hindernisse groß rauskommt. – Der ebenfalls hochbegabte Oskar ist da ganz anders: Aufgrund seiner hohen Intelligenz und seines für sein Alter bereits beeindruckenden Wissen, weiß er auch um vielerlei Gefahren und ist deshalb sehr ängstlich und oft verzagt.
Rico wiederum erlebt die ganze Welt als ein großes Rätsel und als eine kontinuierliche Herausforderung. Doch während Oskars Vater sich kaum für seinen Sohn interessiert, kümmert sich Ricos Mutter trotz knapper Zeit liebevoll um ihren Sprössling. Deshalb ist Rico sehr selbstbewusst und meistert sein Leben durch forsches Drauflosgehen und mit viel Kreativität. Somit ist Rico, Oskar und die Tieferschatten keine Geschichte, in der einer der beiden Freunde klar überlegen und der andere unterlegen ist. Stattdessen werden die beiden als sehr eigene Persönlichkeiten mit klaren Stärken und Schwächen präsentiert, die sich gegenseitig ausgleichen und perfekt ergänzen.