USA 2005 · 86 min. · FSK: ab 6 Regie: David LaChapelle Drehbuch: David LaChapelle Musik: Amy Marie Beauchamp, Jose Cancela Kamera: Morgan Susser, Michael Totten |
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Tanz als Wett- und Überlebenskampf |
Als leidenschaftlicher Kinogänger sieht man im Lauf der Jahre auch eine nicht unerhebliche Menge an Werbung, die (allen Cannes-Rollen zum Trotz) nur selten unterhält, meist folgenlos an einem vorbei zieht und manchmal wirklich nervt.
Selten aber habe ich eine Werbung erlebt, die beim Publikum eine derart negative Reaktion hervorgerufen hat, wie der aktuelle Spott von H&M, einem über fünfminütigem Romeo und Julia-R'n'B-Soap Opera-Musical, das die Leute beim ersten Sehen oft nur befremdet, das mit jedem weiteren Mal aber zunehmend Aggressionen auslöst.
Während man bei vielen gelungenen Werbespotts nur mit Mühe herausfindet wer sie gedreht hat, steht ausgerechnet am Beginn dieses Clips unübersehbar der Name seines Regisseurs: David LaChapelle
Die Nennung seines Namens mag marketingtechnisch klug sein, da LaChapelle bei der Zielgruppe der Werbung durch zahlreiche Musikvideos und Fotoarbeiten einen gewissen Bekanntheitsgrad bzw. Kultstatus besitzt.
Für seinen bei uns zeitgleich anlaufenden Dokumentarfilm Rize leistet der Spott aber einen Bärendienst, da so mancher genervter Kinogänger, der das rührselige Jeansdrama mehrfach über sich hat ergehen lassen müssen, beim Name LaChapelle fortan eine unüberwindbare Verweigerungshaltung einnehmen wird.
Das ist um so bedauerlicher, da Rize durchaus sehenswert ist.
LaChapelle stellt uns in seinem Film einen neuen Tanz- bzw. Lebensstil vor, der sich Clowning bzw. Krumping nennt, der seinen Ursprung in den Armenvierteln von Los Angeles hat, der hierzulande (bisher) praktisch unbekannt ist und ansatzweise in amerikanischen Rap- und Dancehall-Videos, jedoch am deutlichsten im »Galvanize«-Video von den Chemical Brothers zu bewundern ist.
Krumping zeichnet sich durch absurd schnelle Körperbewegungen aus, wirkt nach außen hin aggressiv und
lasziv (was es laut den Tänzern aber weder noch ist) und als unvermeidbares Outfit benötigt man dazu ein bemaltes Gesicht, stilistisch irgendwo zwischen Zirkusclown und martialischer Kriegsbemalung.
Man sollte als Kritiker nicht den Fehler begehen, Rize an den ungeschriebenen Gesetzen des klassischen Dokumentarfilms zu messen. Ebenso falsch wäre es, LaChapelle deshalb in eine Ecke mit Doku-Stürmern wie Michael Moore zu stellen.
Um die Besonderheit des Filmstils von David LaChapelle zu verstehen, empfiehlt sich ein Blick auf seine Foto-Portraits (eine große Auswahl davon ist auf seiner Homepage zu sehen). Während andere Fotographen bei Portraits
versuchen, hinter die Masken der Prominenten zu blicken, einen ehrlichen, ungeschminkten, »wahren« Moment einzufangen, inszeniert LaChapelle seine Bilder mit extremer Künstlichkeit, voller Tricks, Dekors und Maskeraden. Paradoxerweise besitzen diese inszenierten Portraits trotzdem eine erstaunliche, oft sehr subtile Wahrhaftigkeit, die vielleicht weniger über den echten Charakter der dargestellten Person aussagt, dafür um so mehr über ihr öffentliches Image.
So ist auch die Filmarbeit von LaChapelle zu verstehen. Wo Regisseure wie z.B. Chris Hegedus und D.A. Pennebaker die Wahrheit durch unbeteiligtes, unkommentiertes Zusehen suchen, da inszeniert LaChapelle das authentische Filmmaterial (das er in bester Doku-Tradition natürlich nicht beeinflusst oder nachstellt) nach seinem eigenen Gutdünken. Das Ergebnis ist dann auch nicht ethnographisch genau sondern stark assoziativ.
Derart befreit vom Diktat der Chronologie und Echtzeit, lässt LaChapelle seine Kreativität spielen, um einen durchgehend mitreißenden, streckenweise brillant montierten und trotzdem sehr aussagekräftigen Film zu gestalten.
Denn auch hier gilt, dass hinter dem grellen und unterhaltsamen Äußeren einige tiefschürfende Einsichten und Wahrheiten stecken.
Das Problem ist nun, dass Zuschauer und Kritiker in Dokumentarfilmen oft (in jeder Hinsicht) einfachen Wahrheiten suchen (lange genug wurden sie darauf auch hin konditioniert), weshalb etwa der thematisch verwandte Rhythm is it! frenetisch gefeiert wird und seit über einem Jahr in den Kinos läuft. Die Aussage dieses (durchaus gelungenen) Films ist klar und zudem populär: Musik und Kreativität mit einem Schuss Disziplin können Erziehungsprobleme lösen. Schön.
Die Wahrheiten von Rize dagegen sind ein wenig komplizierter und vor allem unbequemer. Etwa dass die Armenviertel von Los Angeles wie South Central oder Watts keineswegs unbewohnbare Todeszonen sind, aber Gewalt und Mord dort immer präsent sind und vor allem durch ihre Willkürlichkeit erschrecken. Oder dass das Clowning als Gegenbewegung zur Gang-Kultur von L.A. zu verstehen ist, unter den verschiedenen Tanzgruppen aber wiederum bittere Feindschaften bestehen. Oder dass das Tanzen einige positive Impulse geben kann, es aber konkret kein einziges der schwelenden Probleme in den Großstadtghettos lösen wird.
Ausdrücklich muss man dabei festhalten, dass Rize solch soziologische Fragen bewusst nicht zum Zentrum des Films macht, sondern sie als Teil eines Ganzen behandelt. Das eigentliche Thema des Films ist vielmehr die Beschreibung eines kulturellen Phänomens, das von einem selbsternannten Straßenclown erfunden wurde, das als der neueste Hype der Tanzszene gilt und zeitgleich auf traditionelle afrikanische Tänze verweist, das von seiner streetcredibility lebt und sich in riesigen battles wie beim Wrestling inszeniert, das Gemeinschaft stiften will und in unzählige Untergruppen zerfällt, das Elemente wie Stripdancing kennt und in andere Ausformung kirchentauglich ist.
Es geht in Rize also vor allem um Ausdrucksformen und Kultur, weshalb der Vorwurf mancher Kritiker, die ausgiebige Präsentation von halbnackten, trainierten Körpern würde das Thema verfehlen, geradezu absurd ist. Denn die Themen des Films sind in erster Linie die vielfältigen Auswirkungen einer Kunstform, zu der eben auch ein bestimmtes Körperbewusstsein gehört und nicht die Probleme in amerikanischen Armutsgegenden.
Dass der Film dabei von Szenen der Rassenunruhen in L.A. und Worten Martin Luther Kings eingerahmt wird, weißt dabei noch lange nicht auf einen explizit politischen Film hin. Solche Ereignisse hatten eben nicht nur eine gesellschaftliche sondern auch eine kulturelle Auswirkung, um die es hier geht. Eine vollständige Geschichte etwa des Blaxploitation-Films oder der 70er Jahre Funk- und Soulmusik könnte man ohne solche Bezüge genau so wenig erzählen.
Vielleicht ist die wichtigste Erkenntnis aus Rize, dass Kultur etwas Bewegliches, Formbares, »Lebendiges« und nichts Starres ist. Das gilt aber eben nicht nur für einen neuen Tanzstil aus Kalifornien, sondern im Grund für jede Kunstform und somit auch für den Dokumentarfilm. David LaChapelle hat das Genre des Dokumentarfilms nicht neu erfunden und er wird es auch nicht revolutionieren, aber er fügt ihm eine neue, interessante Facette bzw. Variation
hinzu.
Ob einem dieser Stil gefällt, ist schlussendlich eine Geschmacksfrage. Cineastisch ist es in jedem Fall eine Bereicherung und somit zu begrüßen.
Das größte Lob, das man Rize aber aussprechen kann, ist die Feststellung, dass es sich für diesen Film lohnt, die vorangehende H&M-Werbung über sich ergehen zu lassen.