Deutschland/F 2018 · 99 min. · FSK: ab 6 Regie: Sebastian Schipper Drehbuch: Sebastian Schipper, Oliver Ziegenbalg Kamera: Matteo Cocco Darsteller: Fionn Whitehead, Stéphane Bak, Moritz Bleibtreu, Ben Chaplin, Marie Burchard u.a. |
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Coming-of-Age eines jungen Europa |
»Seht nur, sie gehen in Scharen, obwohl sie wissen, dass man sie kühl empfangen wird in jener Fremde, weil sie dort nicht hingehören, obwohl sie wissen, dass sie auf einer Pobacke werden sitzen müssen, weil man sie jederzeit auffordern kann, sich zu entfernen, obwohl sie wissen, dass sie gedämpft flüstern werden, weil sie mit ihren Stimmen nicht die Stimmen der Besitzer des Landes ertränken dürfen, obwohl sie wissen, dass sie auf Zehenspitzen werden laufen müssen, um in der neuen Erde keine Spuren zu hinterlassen, um nicht für solche gehalten zu werden, die das Land für sich beanspruchen. Seht nur, sie gehen in Scharen, Arm in Arm mit Verlust und Verlorenen, seht nur, wie sie gehen.«
– NoViolet Bulawayo, Wir brauchen keine neue Namen
Einem breiteren Publikum dürfte Sebastian Schipper vor allem durch seinen mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten letzten Film Victoria (2015) bekannt geworden sein. Wie in seinen Filmen davor, war auch Victoria ein Film, der im Kern um gesellschaftliche und private Identitätssuche, Abgrenzung und Emanzipierung kreiste, der aber auch furios, einfühlsam und wuchtig von einem Banküberfall, Liebe und Berlin erzählte und dann auch noch in einer einzigen Einstellung gedreht wurde.
Schippers neuer Film unterläuft zum Glück alle Erwartungshaltungen, die durch Victoria entstanden sein könnten. Zwar ist auch Roads ein »Buddy-Film«, ringen auch hier die Protagonisten um ihre Identität und sind auch dieses Mal junge Erwachsene im Fokus von Schippers Geschichte, aber etwas ist dann doch ganz anders. Denn Schipper verschiebt erstmals in seinem Werk seinen soziologischen Blickwinkel. Statt um randläufige deutsche Soziotope kreist seine Geschichte dieses Mal um eine Freundschaft, die nicht in Deutschland verankert ist, sondern sich über die »Peripherie Europas« in Marokko, auf den Straßen Spaniens bis nach Frankreich erst noch entwickeln muss.
Im Zentrum von Schippers Road Movie stehen Gyllen (Fionn Whitehead) und William (Stéphane Bak). Gyllen ist gerade 18 geworden und von seinem Stiefvater und seiner Mutter genervt und entschließt sich aus Frust, mit dem Wohnmobil, mit dem Gyllens Familie von England bis nach Marokko gefahren ist, abzuhauen, um seinen leiblichen Vater in Frankreich zu besuchen. Doch sowohl das Wohnmobil als auch marokkanische Kleinkriminelle machen ihm schnell das Leben schwer. Mit dem überraschenden Auftauchen des in etwa gleichaltrigen kongolesischen Flüchtlings William gelingt Gyllen jedoch die Flucht. Und als er erfährt, dass William seinen in Frankreich verschollenen Bruder suchen will, beide also eine ideale Zweckgemeinschaft »Flüchtender« bilden, bietet Gyllen William an, mit ihm zu kommen.
Die Geschichte, die nun folgt, erfüllt zwar die seit Dennis Hoppers Easy Rider lose geltenden Regeln eines Road Movies: aus Bewegung entsteht Freundschaft, aus Erinnerung wird Zukunft, und Dramatik entsteht über zufällige Begegnungen. Doch man sieht schnell, dass Schipper mehr möchte.
Denn mit William an Bord erfährt Gyllen zum ersten Mal in seinem Leben, was Europa für jene bedeutet, die nicht in Europa geboren sind, wie relativ Heimat sein kann und wie persönlichkeitszersetzend eine Migration ist. Diese Erkenntnis ist vor allem vor dem Hintergrund der sich langsam über das Zweckbündnis hinaus entwickelnden Freundschaft möglich, die deutlich ambivalente Züge trägt. Denn sowohl Gyllen als auch William spüren, wie weit trotz einer geteilten Gegenwart ihre Vergangenheit wie auch ihre Zukunft voneinander entfernt liegen, gleichzeitig spüren sie eine intuitive Nähe, die diese Ferne immer wieder überwinden kann.
Die kammerspielartige Intensität und realistische Dichte, die Schipper hier erzeugt, überzeugt vor allem deshalb, weil sie in all ihrer Ambivalenz gezeigt wird, weil interkulturelle Freundschaft immer auch im Kern Verlust bedeutet, und ein Missverstehen des Anderen mühsam aufgebautes Vertrauen schnell wieder verschütten kann. Dieser schlingernde Schwebezustand einer unmöglichen und doch realistischen Freundschaft wird noch einmal durch das Wohnmobil verstärkt, das zum einen ja durchaus Freiheit bedeutet, zum anderen aber immer wieder auch Distanz, Enge, Trägheit und Spießigkeit verkörpert und damit tatsächlich das adäquate Attribut heutiger Road-Movies ist – und inzwischen ja auch fast schon so populär ist, wie es früher das schnelle Motorrad oder der wendige Kleinwagen war. Denn so wie in Paolo Virzis Das Leuchten der Erinnerung oder in Hans Weingartners 303 – so wird auch in Sebastian Schipperrs Roads schnell deutlich, dass das Wohnmobil nur ein temporäres Vehikel und Mittel der Befreiung sein kann, dass es letztendlich auch wieder ausrangiert werden muss, um zum Kern der Freiheit zu gelangen.
Dieser Kern ist für die Protagonisten in Schippers Film allerdings äußerst ernüchternd. Denn sowohl William als auch Gyllen müssen nicht nur erkennen, wie schwer es ist, eine Freundschaft über Grenzen zu etablieren, sondern wie fragil auch Familienkonstellationen sind. Und mehr noch: dass die zerbrechliche Bindung zur Familie nichts anderes als die zerbrechliche Bindung zur eigenen Heimat darstellt, Heimat nicht mehr wie in Meyers Konversationslexikon von 1905 noch der Ort ist, an dem man geboren wurde oder an dem man sein Heim hat, und es aus dieser brutalen »Heimatlosigkeit« eigentlich nur einen Ausweg gibt: Heimat in sich und mit anderen selbst zu schaffen und zu gestalten und das, wenn nötig, auch mit politischem Ethos.
Diese Verknüpfung von Persönlichem und Politischem macht Schippers Film nicht nur zu einem gelungenen, ganz hervorragenden Film, sondern auch zu einem Film, der nicht nur in Kinos, sondern auch an Schulen gezeigt werden sollte. Denn Roads ist auch ein Film über Europa und die Welt darüber hinaus, der von Scheitern ebenso wie von Gelingen erzählt, der versucht, dem komplexen Coming-of-Age eines noch so jungen Europa mit all seinen moralischen Untiefen auf die Spur zu kommen, und der auch zeigt, dass Europa nur der Anfang ist, dass so wie Schippers Helden erkennen müssen – es alleine nicht geht.