GB/USA 2019 · 121 min. · FSK: ab 12 Regie: Dexter Fletcher Drehbuch: Lee Hall Kamera: George Richmond Darsteller: Taron Egerton, Richard Madden, Jamie Bell, Stephen Graham, Bryce Dallas Howard u.a. |
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Überraschende Nebenschauplätze |
»Steh auf und kämpfe!« – Black Knight 2000 Pinball, Williams Electronics
»Um einen Lebenden zu verstehen, muss man wissen, wer seine Toten sind. Und man muss wissen, wie seine Hoffnungen endeten – ob sie sanft verblichen oder ob sie getötet wurden. Genauer als die Züge des Antlitzes muss man die Narben des Verzichts kennen.« – Manès Sperber, Wie eine Träne im Ozean
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Seit Dexter Fletchers Bohemian Rhapsody, nein, sogar schon seit Phyllida Lloyds Mamma Mia! gibt es einen zutiefst unheimlichen »Film-Algorithmus«, der es tatsächlich vermag, Musik, die der Betrachter nicht mag, ja vielleicht sogar verachtet, so zu kodieren, dass sie nicht nur »hörbar«, »verständlich«, sondern sogar zu einem ganzheitlichen Genuss wird.
Kein Wunder also, dass Dexter Fletcher als versierter »Coder« dieses »Algorithmus« sich nun auch der frühen Jahre von Elton John annehmen durfte. Doch anders als in seinem furiosen Ritt durch Freddie Mercurys mittleres Leben ändert Fletcher in Rocketman ein paar »Handlungsvorschriften«. Zum einen taucht er tief in die Kindheit von Elton John ein und entwirft ein ähnlich instabiles Familien-Kaleidoskop wie Caroline Link für Hape Kerkeling in Der Junge muss an die frische Luft. Zum anderen versetzt er vor allem Elton Johns Kindheitsjahre mit Musical-Elementen, wie sie aus Mamma Mia! bekannt sind, wenn die Handlung plötzlich absurd und skalpellartig von Musik- und Tanzeinlagen seziert und in einen neuen, »gesünderen« Zustand überführt wird.
Dabei gehen allerdings vor allem im ersten Teil auch wichtige Informationen verloren, wirken Entwicklungen rätselhaft, holprig und schwer nachvollziehbar. Gleichzeitig überrascht Fletcher aber hier auch mit Schnitten – wie etwa dem vom ersten Pub-Konzert als Kind zu den Konzerten als junger Mann mit eigener Band –, die gerade die Stärke filmischer Verdichtung von Zeit exemplarisch und hervorragend verdeutlichen.
Im zweiten Teil, der die Entwicklung des jungen Mannes zum reifen Künstler, aber für alle Schwächen des Lebens anfälligen Menschen zeigt, nimmt sich Fletcher deutlich mehr Zeit. Zwar gibt es wieder fulminante musikalische Einlagen, wie etwa Elton Johns legendäres erstes Konzert im »Troubadour« in Los Angeles, in dem Elton Johns Musik nicht nur ihn, sondern auch das Publikum in einen kongenialen Schwebezustand versetzt. Doch dann konzentriert sich Fletcher auf die dunklen Seiten, um von den Depressionen, Drogenexzessen und den ernüchternden Beziehungen von Elton John zu erzählen. Hier werdena auch die überraschenden Parallelen zur Biografie von Freddie Mercury deutlich, der nicht nur einen ähnlichen Entfremdungsprozess zu seiner Familie durchlief, sondern schließlich sogar den gleichen – schwulen – Manager hatte. Und es kommt fast einem Tabubruch gleich, dass Fletcher schwulen Sex in einer Deutlichkeit zeigt, die im Mainstream-Kino im Normalfall unbekannt ist.
Doch Rocketman begutachtet auch überraschende Nebenschauplätze, die bislang selten in Filmbiografien populärer Musik thematisiert worden. So wird etwa über die Einbeziehung von englischen Regionaldialekten (z.B. Johns erster Manager und dessen Umfeld) und der exemplarischen Zurschaustellung typisch neureicher Verhaltensweisen deutlich, dass ähnlich wie beim Fußball auch die moderne Musikindustrie ihre vielleicht markantesten Wurzeln in der Arbeiterklasse hatte und einen sozialen Aufstieg erst ermöglichte.
Und dann ist da natürlich Taron David Egerton (Robin Hood, Kingsman – The Secret Service) als Elton John, der alle Songs selbst eingesungen hat, der den schmalen Grad zwischen Gelingen und Scheitern in Elton Johns Leben mit einer vibrierenden, immer wieder verzweifelnden Präsenz erfüllt und dabei von einem bis in kleinste Nebenrollen hochkarätigem Ensemble unterstützt wird, das Rocketman auch schauspielerisch zu einem umwerfenden, bewegenden und glaubwürdigen, musikalischen Gedankenspiel werden lässt, und sogar die späte, moralische Kehrtwendung, die über zahlreiche persönliche Katastrophen hart erarbeitete »Normalität« im Leben Elton Johns mit einem leichtfüßigen Ernst behandelt, den wohl jeder sich auf seinem Grabstein wünscht.