Frankreich 2022 · 106 min. · FSK: ab 16 Regie: Lola Quivoron Drehbuch: Lola Quivoron, Antonia Buresi Kamera: Raphael Vandenbussche Darsteller: Julie Ledru, Yannis Lafki, Antonia Buresi, Ahmed Hamdi, Cody Schroeder u.a. |
Um Motorräder und Autos ist über Jahrzehnte hinweg ein Kult voller machistischer Klischees, Fantasien und Codes entstanden. Kerle durchstreifen ihr Revier, bezwingen Räume. Das Pferd der einstigen Cowboys ist in der westlichen Vorstellung einem mechanischen Pendant gewichen. Und doch hat sich in der Rezeption und den Bildern dieser vermeintlichen Männer-Domäne einiges getan. Filmregisseure wie Kenneth Anger oder Fred Halsted hatten beispielsweise schon in den 1960er- und 70er-Jahren unter die Oberfläche der Welt der Ledermonturen, Schrauber und Biker-Gangs geschaut.
Zuletzt drängten sich diverse (queer)feministische Ansätze in den Vordergrund, um mit Stereotypen und ihren Beziehungen zum Objekt, Fahrzeug und dessen Zubehör zu brechen. Man denke etwa an Julia Ducournau mit ihrem Cannes-Gewinner Titane oder die Choreographien von Florentina Holzinger mit ihren Bühnen-Stunts, die das Neue, Widerständige gegenüber konventionellen Geschlechterzuschreibungen suchen. Lola Quivoron wagt nach einigen Kurzfilmen und dokumentarischen Arbeiten Vergleichbares. Das Thema Motocross ist keine Neuheit in ihrem Oeuvre. In Rodeo erzählt sie von einem Geschlechterkampf in der Banlieue von Bordeaux. Sie erkundet dabei eine Subkultur, die über Motorräder Identität und Gemeinschaft stiftet. Nur beinhaltet dieser Prozess immer schon innere Grenzen und die werden mit Gewalt, Ausblendung und Rollenzuschreibungen gezogen.
Julia findet sich zwischen allen Schranken wieder. Die Bikerin Julie Ledru spielt diese junge Protagonistin. Quivoron hat ihr Drama mit Laiendarstellern besetzt. Als Teil einer Unterschicht versucht Julia, sich in ihrem Umfeld zu behaupten und dessen Normen zu durchkreuzen. Der emanzipatorische Prozess, das Sich-Widersetzen gegen Kategorien ist das Ziel. Teil einer Gruppe sein, ohne sich ihren Repressionen zu fügen. Rodeo beginnt dabei mit einem Knall, eine Tür wird aufgestoßen, Julia ist wütend. Wo ist ihr Motorrad? Bilder wackeln, suchen die Nähe. Lola Quivoron lässt ihre Milieustudie aus hitzigen Affekten entstehen. In ihrer Filmwelt sind die Nerven angespannt. Jederzeit scheint eine Eskalation zu drohen, die die Körper brutal zurichtet und in der Textur der körnigen Bilder verkümmern lässt.
Rodeo meint dabei das schiere Kräftemessen, ausgetragen auf zwei Rädern. Männer präsentieren ihr soziales Geschlecht in Mutproben, Rennen und Kunststücken. Sie suchen Aufmerksamkeit, heben mit den Reifen vom Boden ab, füllen die Welt mit dem Lärm der Motoren. Bis der nächste Behörden-Zugriff den Provokationen ein Ende zu setzen versucht. Julia stößt in dieser von Alphamännchen beherrschten Welt zunächst auf taube Ohren. Sie mischt sich unter die Gruppen, wird als eigensinnige Frau misstrauisch beäugt. Aber sie perfektioniert kriminelle Maschen, um andere um ihre Fahrzeuge zu erleichtern und sich einen Status zu erarbeiten.
Lola Quivorons Langfilmdebüt, 2022 in der Sektion Un Certain Regard in Cannes preisgekrönt, zeigt eindrucksvoll, wie das Motorrad in diesen Konflikten eine mythische Überhöhung erfährt. Das Gefühl von Freiheit wird dafür gern als Umschreibung genutzt. Tatsächlich: Quivorons sinnlich inszenierte Fahrten im Wind könnten diesem Gefühl Ausdruck verleihen, würden sie nicht so brutal anmuten. Das ohrenbetäubende Knattern sägt sich ins Bewusstsein. Jenes Freiheitsgefühl kommt nicht aus, ohne die Unterwerfung und Einschüchterung einzuschließen. Rodeo, das traditionelle Ringen mit der Tierkraft, wird zum Glücksgefühl auf Zeit und der Lust am Risiko. Man zähmt entwendete Vehikel. Nachts streichelt man ihre Sitzpolster wie ein kultisches Objekt. Morgens wacht man in Benzingestank auf, der sich an Kleidung, Haut und Haare heftet. Er folgt Julia bis in ihr Schlafzimmer.
Und natürlich ist die soziale Klasse dabei der eigentliche Konfliktpunkt! Das Biken und die illegalen Machenschaften erlauben Überlegenheit und Eroberung, die die ökonomischen Umstände sonst verwehren. Man hat etwas, das man sich untertan machen kann, während man vergebens um einen gesellschaftlichen Aufstieg kämpft. Ebenso verhält es sich mit zwischenmenschlichen Streitigkeiten – diese Parallele und Zwiespältigkeit arbeitet Rodeo klug heraus. Man beleidigt und bedroht einander, verteilt Prügel, degradiert andere aufgrund von Sexualität, Geschlecht oder Aussehen, um sich selbst überlegen zu fühlen. Alles, um Gewohntes nicht neu befragen zu müssen. Die einende prekäre Situation in der Banlieue, welche von außen strukturell geschaffen, geduldet und bewahrt wird, gebiert weitere interne Hierarchien, Machtkämpfe und Intrigen.
Der Schriftsteller Édouard Louis nutzt in dem 2023 auf Deutsch publizierten »Gespräch über Kunst und Politik« mit dem Regisseur Ken Loach (Sorry We Missed You) eine Begrifflichkeit, die sich auch in Rodeo aufdrängt: »doppelte politische Gewalt«. Sie vollzieht sich laut Louis »zunächst in dem Augenblick, wenn die Regierungen die soziale Unterstützung beschneiden und die Arbeitsbedingungen prekarisieren, wenn sie dafür sorgen, dass Arzneimittelkosten nicht mehr getragen werden usw., und ein weiteres Mal, wenn diese sogenannten Reformen eine ganz private Wirkung auf das Leben der Leute haben […]«. Das stellt also einen direkten Zusammenhang zwischen politischen Maßnahmen oder ihrem Fehlen und den Formen von reproduzierter Gewalt und Diskriminierung her, die dann im persönlichen Umfeld aus Frust, Verzweiflung, Anpassungsdruck oder Überlebenskampf resultieren.
Rodeo strickt daraus keine simple Entschuldigung oder Alternativlosigkeit für die gezeigten Dynamiken, aber er verweist auf solche Verknüpfungen in marginalisierten und abgehängten Milieus, indem er sich auf die konfrontative Kino-Erfahrung verlässt. Das heißt: ein Publikum unmittelbar am Alltag anderer teilhaben lassen, allzu feste Dramaturgien lockern, ein Bewusstsein für Lebensgefühle aus inneren Zuständen heraus schaffen. Dennoch ist Rodeo kein sonderlich diskursiver Film geworden – leider! Nicht, dass er seine Spannungen auflösen müsste, keineswegs! Nur fehlt ihm ein wenig die Lust am Spiel mit den Perspektiven.
Er lässt das Zugehörigkeitsstreben seiner Protagonistin und ihren Kampf gegen die aggressiven Männlichkeiten wie im Tunnel geschehen, spitzt seine Gangster-Erzählung zu, bis er sogar das Übersinnliche in den groben Bildern sucht. Offenbar muss erst die höchste Überschreitung vollzogen werden, um jenseits etablierter Konventionen leben und denken zu können. Doch gerade die Komplexität der sozialen Umstände, in der diese Bilder entstehen, bleibt in der Engführung von Rodeo eine flüchtige Erscheinung von Normalität. Sie wird als Kulisse zwar in ihrer Verflechtung mit Gewalt, Kriminalität und Emanzipation deutlich, aber ringt sich wenige Facetten jenseits des Offensichtlichen ab. Dafür fehlt es dem Panorama an Gespür für all die Nebenfiguren, ihre Motive, Eigenarten und Biographien.
Quivoron will zwar mit Haut und Haar in die Realität inner- und außerhalb der Sozialwohnsiedlung eintauchen, bleibt aber recht abstrakt in Bezug auf die Widersprüchlichkeiten ihrer Figuren. Stattdessen treibt es Rodeo im wahrsten Sinne und unaufhaltsam die Straße entlang. Was es daneben eigentlich zu sehen gibt, zieht schnell vorbei. Er rast hinein in die Schöpfung seiner eigenen kämpferischen Ikone, bis ihm nichts anderes bleibt, als in symbolisch behafteten Flammen aufzugehen.