Deutschland 2023 · 86 min. · FSK: ab 12 Regie: Tuna Kaptan Drehbuch: Fentje Hanke Kamera: Ben Bernhard Darsteller: Angjela Prenci, Peter Schneider, Michael Kranz, Kasem Hoxha, Janina Elkin u.a. |
||
Klärende Gespräche an Un-Orten... | ||
(Foto: missingFILMs/Woodwaterfilm) |
Es ist ein Aufatmen, sieht man diese Filme, denn es sind Filme, die zeigen, dass das deutsche Kino lebt. Es sind Filme, die intensiv über die andere Seite Deutschlands erzählen, die Seite, von der kaum einer etwas weiß: ein Möbelpackerleben in Frankfurt in David Nawraths Atlas (2018), ein illegales Arztdasein in Daniel Rakete Siegels und Denis Moschittos Schock (2023) oder erst vor ein paar Wochen Aslı Özarslans großartiger Ellbogen (2024) über eine junge Türkin mit Migrationshintergrund, der von der FSK eine groteske FSK16 erhalten hat und damit als wichtiger »Familienfilm« für das Zielpublikum nicht mehr zugänglich ist. Alle diese Filme erzählen von dysfunktionalen Familien, die auch ein Spiegel einer in vielen Belangen dysfunktionalen deutschen Gesellschaft sind. Es sind die besseren Familienfilme, weil sie überraschen, weil sie überfordern und weil sie erklären, was gerade in diesem unseren Land passiert, ohne dass wir es sehen.
Zu diesen Filmen gehört auch Tuna Kaptans Rohbau, der 2023 bei den 57. Hofer Filmtagen den Förderpreis Neues Deutsches Kino erhalten hat. Kaptan, der bisher mit seinen Dokumentarfilmen (Nacht Grenze Morgen, Schildkröten Panzer, Are you listening mother) zahlreiche Preise gewonnen hat, begibt sich auch in seinem ersten Spielfilm auf eine zu Anfang dokumentarisch anmutende Spurensuche, in der Bauleiter Lutz dabei porträtiert wird, wie er illegale Bauarbeiter auf seine Baustelle fährt und Arbeiter und Arbeiten arrangiert, um einen Rohbau fertigzustellen. Bis es zu einem Unfall kommt. In diesem Moment entpuppt sich Rohbau zu einem neuen Film, zu einem Kammerspiel über Lüge, Schuld, Migration und das Leben an sich. Und zu einem zärtlichen Film über eine Annäherung zweier Menschen, die unterschiedlicher nicht sein können. Denn das präzise, fein getaktete Drehbuch von Fentje Hanke führt Lutz die 14-jährige Irsa (Angjela Prenci) zu, eine junge Albanerin, die Tochter jenes albanischen Bauarbeiters ist, der in der Nacht zuvor unter Lutz’ Aufsicht verunglückt ist.
Kaptan führt dieses sich unter unterschiedlichsten Prämissen annähernde Paar durch deutsche und italienische Nicht-Orte, ganz im Sinn des französischen Anthropologen Marc Augé, führt sie über Baustellen, Brachflächen und Autobahnen bis in ein Albanien, das zum ersten wirklichen Ort des Films wird, wohl auch, weil hier der Weg der Lüge und »Entfremdung« verlassen wird.
Aber mehr noch zeigt Kaptan die grenzenlose Einsamkeit einer korrupten Gesellschaft, zeigt Einsamkeiten, die für die »Indigenen« genauso groß sind wie für die »Migranten«. Dabei erinnert Kaptans junge Heldin in einigen Momenten an eine andere junge, illegale Migrantin, die sich durch die Nacht schlägt, ebenfalls auf der Suche nach ihrem Vater und ihrer Identität. Doch anders als die elfjährige Ama in Sander Burgers Mein Totemtier und ich (2023) braucht Kaptan glücklicherweise nicht die Hilfe des magischen Realismus. Er vertraut auf einen gnadenlosen Realismus, der allenfalls poetische und zärtliche Momente zeigt, dann aber wie in einem von Ken Loachs Sozialdramen das Skalpell unbeirrt weiter seine stillen, präzisen und heilenden Schnitte führen lässt, um am Ende das zu zeigen, was wirklich ist.
Und das ist dann nicht nur die schon erwähnte grenzenlose Einsamkeit, sondern auch die Geschichte hinter den Geschichten, die überraschenden Schnittstellen, in denen Damenbinden und ein Teddybär genauso zusammengehören, wie die Tatsache, dass ein albanischer Bauarbeiter, der auf einer deutschen Baustelle gearbeitet hat, in Albanien ein studierter Architekt ist, der seiner Tochter Englisch und noch viel mehr beigebracht hat. Das erzählt Kaptan jedoch nie aufdringlich oder ideologisch aufgesetzt, sondern im Sinne eines klaren Sachbuchs wie Hein de Haas’ Migrationsbuch, und genau mit dem subtilen Timbre, das es braucht, um diese Geschichten zu transportieren, um sie für ein breites Publikum interessant zu machen. Da Rohbau – trotz eines Todesfalls (nicht anders als in Ellbogen) – erstaunlicherweise die FSK12 erhalten hat, sollten dazu nicht nur Erwachsene ohne Kinder gehören, sondern auch Eltern und ihre Kinder, und natürlich Schulklassen und ihre Lehrer, für die Rohbau unbedingt sehenswert ist. Nicht nur, um endlich einmal von den ausgetretenen Pfaden so erfolgreicher, aber schlechter deutscher Filme abgebracht zu werden, wie etwa der Schule der magischen Tiere 3, der zufälligerweise zeitgleich mit Rohbau anläuft, sondern um endlich zu verstehen, in welchem Land wir eigentlich leben. In einem Land, das einem Rohbau gleicht, der fragiler nicht sein könnte und bei dem sich jetzt entscheidet, zu welchen Todesfällen es noch kommen muss und ob er überhaupt jemals »ordnungsgemäß« fertiggestellt wird.