Belgien/F 1999 · 94 min. · FSK: ab 12 Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne Drehbuch: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne Kamera: Alain Marcoen Darsteller: Emilie Dequenne, Fabrizio Rongione, Anne Yernaux, Olivier Gourmet u.a. |
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Rosetta |
Sie rauscht auf dich zu wie ein Zug. Sie ist jung, ungebrochen, eine Kriegerin. Von der ersten Einstellung an, als das Bild Rosetta bei der Schlacht um ihren Arbeitsplatz in einer Fabrik findet. Mit Händen und Füßen wehrt sie sich. Als ginge es um ihr Leben, als wäre das die Hinrichtung, die Aufforderung »Bitte stell dich an die Wand«. Keine subtile Psychologie, ihr Körper füllt das Bild. Handkamera, verwackelt wie noch nie, eine kleine Achterbahnfahrt im Kinosessel.
Der Absturz in die Realität eines Mädchens, Frühreife ist bei ihr eine Frage des Überlebens. Die Mutter Alkoholikerin, der Vater verschwunden, treibt sie ihr Leben durch die Enge eines Campingplatzes. Dort wo der Rest der Menschheit Urlaub macht, ein Bewohner auf Zeit bleibt, die Männer Houellebecqs ihre Wunden lecken, ist ihre Heimat, im Anhänger. Rosetta ist mutig, eine Kampfmaschine, manchmal rücksichtslos, wenn es die Umstände von ihr verlangen.
Die Brüder Dardenne finden eindrucksvolle Bilder, kein Sozialkitsch von der armen Verstoßenen, Fakten, die mise-en-scène reduziert, so dass letztlich nur die Wirklichkeit zurückbleibt, Konfrontationskurs. Der Kader immer eine Skizze, zu unruhig die Bewegungen, um den Inhalt künstlich erscheinen zu lassen. Rosetta, wie sie ihre billigen Stadtschuhe gegen die im Wald versteckten Gummistiefel eintauscht. Wie sie in den Wagen des Aufsehers dringt und dort das Scheusal findet, die Hose zuknöpfend, davor die Mutter, die für eine Flasche Schnaps so ziemlich alles tun würde. Rosettas Traum von einer neuen Stelle, einer Wohnung. Sie lernt den jungen Riquet kennen, liegt nachts im Bett und spricht zu sich selbst »Du hast einen Freund gefunden«, dann: »Ich habe einen Freund gefunden«. Vorsichtig, behutsam. Bedürfnisse und Wünsche einzugestehen ist eine unerhörte Gefahr in ihrer Welt, führen in die gleiche Korrumpierbarkeit, die die Mutter zerstört.
Der Film setzt hart an der Grundbedingung des Kinos an: Bewegung. Als wäre nach Edison und den Lumières nichts passiert. Bedingungslos bleibt die Kamera an den Figuren haften (und findet dort eine Analogie zu Intimacy von Patrice Chéreau, dem Gewinner des Goldenen Bären 2001), das Gesicht die Landschaft, an der sich alles andere ablesen lässt. Absolute Reduktion der Interieurs, die Räume minimiert auf verschlagene Blicke, Affekte, die tapferen Augen der Protagonistin. Der Schnitt schafft die Dynamik einer Verfolgungsjagd, auch wenn Rosetta nur einen Eimer Wasser holen geht. Man sitzt und staunt. Die Faszination, die wohl Muybridge empfunden haben muss, als er seinen »Human Body in Motion« fotografierte.
Am Ende die Hoffnungslosigkeit, Rosetta sieht keinen Ausweg mehr, versucht sich und das Kind Mutter mit Gas im Anhänger zu vergiften. Die Gasflasche ist irgendwann leer, sie muss eine Neue holen gehen. Die Kamera folgt ihr und was sie da findet gehört wohl zum Eindrucksvollsten, was die Leinwand zu bieten hat. Tragödie, einfach und nachvollziehbar. Das Kino, die Welt unserer Träume, mit einer knappen Geste wischt Rosetta das weg.