Argentinien/BR/F/NL/D 2018 · 109 min. · FSK: ab 12 Regie: Benjamin Naishtat Drehbuch: Benjamin Naishtat Kamera: Pedro Sotero Darsteller: Darío Grandinetti, Andrea Frigerio, Alfredo Castro, Laura Grandinetti, Diego Cremonesi u.a. |
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Wie aus der Zeit gefallen | ||
(Foto: Cine Global) |
Rojo – Wenn alle schweigen, ist keiner unschuldig beginnt mit einer Szene, in der Nachbarn Elektrogeräte, Kleidung und andere Gegenstände aus einem leerstehenden Haus tragen. Das Gebäude wurde offensichtlich überstürzt verlassen.
Es folgt ein fulminanter Auftakt: Der Provinzanwalt Claudio (Darío Grandinetti aus Pedro Almodóvars Sprich mit ihr und Julieta) wartet in einem feinen Restaurant auf seine Frau Susana (Andrea Frigerio). Da erscheint ein Fremder (Diego Cremonesi), der später als »der Hippie« bekannt werden wird. Er verlangt den Tisch von Claudio, da dieser jenen seiner Meinung nach sinnlos blockiert, da er nichts bestellt. Claudio gibt den Tisch frei. Daraufhin rügt er den Fremden jedoch aufgrund seiner schlechten Erziehung und sagt, dass er überall Probleme haben wird. Kurz darauf bekommt der Fremde einen Wutanfall, der zu einem Tumult im Restaurant führt. Daraufhin verlässt er das Lokal. Als Claudio und Susana später ebenfalls das Restaurant verlassen, wird ihr Auto von dem Fremden attackiert. Claudio wälzt sich mit ihm auf dem Boden. Dann zückt der Fremde eine Pistole und bedroht erst Claudio, bevor er sich selbst eine Kugel in den Kopf schießt. Er überlebt jedoch und Dario verfrachtet ihn in den Wagen. Zu seiner Frau sagt er, dass er ihn in ein Krankenhaus fahren will. Als seine Frau ausgestiegen ist, fährt Claudio den Fremden jedoch in die Pampa und lädt ihn am Straßenrand ab, damit er dort stirbt.
Nach so einem Start würde man erwarten, dass sich der Rest des Films um diesen Vorfall dreht. Tatsächlich erscheint der chilenische Ermittler Sinclair (Alfredo Castro) auf der Bildfläche, um dem Verschwinden des Hippies nachzugehen. Seine Ermittlungen sind jedoch nur ein Handlungsstrang unter vielen. Einen viel größeren Teil der Spielzeit widmet sich Rojo den Besuchen von verschiedenen Hilfe suchenden Klienten in Claudios Anwaltspraxis, der Darstellung von verschiedenartigen gesellschaftlichen Zusammenkünften und den Tanzproben von Claudios Tochter Paula (Laura Grandinetti).
Einer von Claudios Klienten will mit der Hilfe des Anwalts auf unrechtmäßige Weise das verlassene Haus erwerben, das wir am Anfang des Films gesehen haben. Und der eifersüchtige Freund von Paula lässt später einen Kommilitonen verschwinden. Auch auf gesellschaftlichen Zusammenkünften wird von verschwundenen Menschen geflüstert. Wir schreiben das Jahr 1975 und Argentinien befindet sich kurz vor dem Militärputsch und auf dem Höhepunkt des schmutzigen Kriegs der Regierung gegen liberale Bürger, der zu zahlreichen »desaparecidos« (»Verschwundenen«) geführt hat. Dieses Verschwinden spiegelt sich auch in der Performance eines Zauberkünstlers, bei der ein Zuschauer weggezaubert wird und anschließend nicht mehr auftaucht.
Im Zentrum des Films steht eine Sonnenfinsternis, welche den Himmel blutrot färbt. Dies ist ein Hinweis auf den Filmtitel Rojo (»rot«). Die Farbe Rot verweist gleichermaßen auf die von der Regierung verfolgten Kommunisten wie auf die rote Farbe der diese verfolgenden Argentinischen Antikommunistischen Allianz (AAA).
Dieser rote Himmel tritt auch deshalb so markant hervor, weil der Großteil des Films von schmutzigen Brauntönen dominiert ist. Ein bräunlicher Schleier legt sich auch über die restlichen Farben. Nur in wenigen Nachtansichten weicht dieses Farbschema einem Blaufilter. Auch das gleichfalls äußerst symbolträchtige Kabarett, in dem der Magier auftritt, ist in kräftigen Farben dargestellt. Diese Brauntöne lassen Rojo wie einen Film aus der Zeit, in der die Handlung spielt, erscheinen. Zu diesem Eindruck tragen auch die heftigen Zooms, die Standbilder und der Einsatz eines Teleobjektivs bei.
Rojo zeigt eine Gesellschaft, die unter ihrer respektablen Oberfläche zutiefst falsch ist. Obwohl der schmutzige Krieg der argentinischen Regierung gegen die eigenen Bürger nicht explizit erwähnt wird, spiegelt sich deren Praxis des Verschwindenlassens in dem Verschwindenlassen einzelner Personen durch die Protagonisten der Handlung. Der Film ist ein satirisches Sittengemälde, das ein zutiefst beunruhigendes Licht auf die argentinische Gesellschaft zur Mitte der 1970er-Jahre wirft.