Rojo – Wenn alle schweigen, ist keiner unschuldig

Rojo

Argentinien/BR/F/NL/D 2018 · 109 min. · FSK: ab 12
Regie: Benjamin Naishtat
Drehbuch:
Kamera: Pedro Sotero
Darsteller: Darío Grandinetti, Andrea Frigerio, Alfredo Castro, Laura Grandinetti, Diego Cremonesi u.a.
Filmszene »Rojo - Wenn alle schweigen, ist keiner unschuldig«
Wie aus der Zeit gefallen
(Foto: Cine Global)

Zum Verschwinden gebracht

Rojo ist ein satirisches Sittengemälde, das ein zutiefst beunruhigendes Licht auf die argentinische Gesellschaft zur Mitte der 1970er-Jahre wirft

Rojo – Wenn alle schweigen, ist keiner unschuldig beginnt mit einer Szene, in der Nachbarn Elek­tro­geräte, Kleidung und andere Gegen­s­tände aus einem leer­ste­henden Haus tragen. Das Gebäude wurde offen­sicht­lich über­stürzt verlassen.

Es folgt ein fulmi­nanter Auftakt: Der Provinz­an­walt Claudio (Darío Gran­di­netti aus Pedro Almo­dó­vars Sprich mit ihr und Julieta) wartet in einem feinen Restau­rant auf seine Frau Susana (Andrea Frigerio). Da erscheint ein Fremder (Diego Cremonesi), der später als »der Hippie« bekannt werden wird. Er verlangt den Tisch von Claudio, da dieser jenen seiner Meinung nach sinnlos blockiert, da er nichts bestellt. Claudio gibt den Tisch frei. Daraufhin rügt er den Fremden jedoch aufgrund seiner schlechten Erziehung und sagt, dass er überall Probleme haben wird. Kurz darauf bekommt der Fremde einen Wutanfall, der zu einem Tumult im Restau­rant führt. Daraufhin verlässt er das Lokal. Als Claudio und Susana später ebenfalls das Restau­rant verlassen, wird ihr Auto von dem Fremden atta­ckiert. Claudio wälzt sich mit ihm auf dem Boden. Dann zückt der Fremde eine Pistole und bedroht erst Claudio, bevor er sich selbst eine Kugel in den Kopf schießt. Er überlebt jedoch und Dario verfrachtet ihn in den Wagen. Zu seiner Frau sagt er, dass er ihn in ein Kran­ken­haus fahren will. Als seine Frau ausge­stiegen ist, fährt Claudio den Fremden jedoch in die Pampa und lädt ihn am Straßen­rand ab, damit er dort stirbt.

Nach so einem Start würde man erwarten, dass sich der Rest des Films um diesen Vorfall dreht. Tatsäch­lich erscheint der chile­ni­sche Ermittler Sinclair (Alfredo Castro) auf der Bild­fläche, um dem Verschwinden des Hippies nach­zu­gehen. Seine Ermitt­lungen sind jedoch nur ein Hand­lungs­strang unter vielen. Einen viel größeren Teil der Spielzeit widmet sich Rojo den Besuchen von verschie­denen Hilfe suchenden Klienten in Claudios Anwalts­praxis, der Darstel­lung von verschie­den­ar­tigen gesell­schaft­li­chen Zusam­men­künften und den Tanz­proben von Claudios Tochter Paula (Laura Gran­di­netti).

Einer von Claudios Klienten will mit der Hilfe des Anwalts auf unrecht­mäßige Weise das verlas­sene Haus erwerben, das wir am Anfang des Films gesehen haben. Und der eifer­süch­tige Freund von Paula lässt später einen Kommi­li­tonen verschwinden. Auch auf gesell­schaft­li­chen Zusam­men­künften wird von verschwun­denen Menschen geflüs­tert. Wir schreiben das Jahr 1975 und Argen­ti­nien befindet sich kurz vor dem Mili­tär­putsch und auf dem Höhepunkt des schmut­zigen Kriegs der Regierung gegen liberale Bürger, der zu zahl­rei­chen »desa­pa­re­cidos« (»Verschwun­denen«) geführt hat. Dieses Verschwinden spiegelt sich auch in der Perfor­mance eines Zauber­künst­lers, bei der ein Zuschauer wegge­zau­bert wird und anschließend nicht mehr auftaucht.

Im Zentrum des Films steht eine Sonnen­fins­ternis, welche den Himmel blutrot färbt. Dies ist ein Hinweis auf den Filmtitel Rojo (»rot«). Die Farbe Rot verweist glei­cher­maßen auf die von der Regierung verfolgten Kommu­nisten wie auf die rote Farbe der diese verfol­genden Argen­ti­ni­schen Anti­kom­mu­nis­ti­schen Allianz (AAA).

Dieser rote Himmel tritt auch deshalb so markant hervor, weil der Großteil des Films von schmut­zigen Braun­tönen dominiert ist. Ein bräun­li­cher Schleier legt sich auch über die rest­li­chen Farben. Nur in wenigen Nacht­an­sichten weicht dieses Farb­schema einem Blau­filter. Auch das gleich­falls äußerst symbol­träch­tige Kabarett, in dem der Magier auftritt, ist in kräftigen Farben darge­stellt. Diese Brauntöne lassen Rojo wie einen Film aus der Zeit, in der die Handlung spielt, erscheinen. Zu diesem Eindruck tragen auch die heftigen Zooms, die Stand­bilder und der Einsatz eines Tele­ob­jek­tivs bei.

Rojo zeigt eine Gesell­schaft, die unter ihrer respek­ta­blen Ober­fläche zutiefst falsch ist. Obwohl der schmut­zige Krieg der argen­ti­ni­schen Regierung gegen die eigenen Bürger nicht explizit erwähnt wird, spiegelt sich deren Praxis des Verschwin­den­las­sens in dem Verschwin­den­lassen einzelner Personen durch die Prot­ago­nisten der Handlung. Der Film ist ein sati­ri­sches Sitten­ge­mälde, das ein zutiefst beun­ru­hi­gendes Licht auf die argen­ti­ni­sche Gesell­schaft zur Mitte der 1970er-Jahre wirft.