Die Ruhelosen

Les Intranquilles

Belgien/F/L 2021 · 114 min. · FSK: ab 12
Regie: Joachim Lafosse
Drehbuch:
Kamera: Jean-François Hensgens
Darsteller: Leïla Bekhti, Damien Bonnard, Gabriel Merz Chammah, Patrick Descamps, Jules Waringo u.a.
Filmszene »Die Ruhelosen«
Hochspannung, Entspannung – zwei Pole des Lebens
(Foto: eksystent / Stenola Productions)

Wunderbares Außer-sich-Sein

Der belgische Regisseur Joachim Lafosse zeichnet in Die Ruhelosen das faszinierende Kraftfeld eines Bipolaren. Das erschöpft, macht aber auch glücklich

Gerade hat er noch gekocht. Feinstes Menü, Waldpilze, Seefrüchte, Zitro­nen­zesten, Rezept im Kopf. Ein Hin und Her in der Küche, Töpfe werden raus­ge­zerrt, alles brutzelt und kocht, alles gleich­zeitig, dazwi­schen Damien wie ein freud­volles Rumpel­stilz­chen, unbändige Vorfreude auf den Gaumen­schmaus, den er für seine Familie vorbe­reitet. Ein Traummann, ein Traum-Ehemann. Plötz­liche Ablenkung, plötz­li­cher Ideen­wechsel. Ein Salto in den dreckigen Teich könnte jetzt Abwechs­lung bringen, Damien rennt zum Steg, eine johlende Kinder­schar zieht er hinter sich her, Papa ist der beste, der lustigste, der aufre­gendste. Und noch immer brodelt und kocht es in der Küche.

Dass das Leben von Leïla (Leïla Bekhti), das sie mit Damien (Damien Bonnard) führt, »ruhelos« ist, wie der belgische Regisseur Joachim Lafosse seinen neuen Film nennt, ist ziemlich unter­trieben. Damien ist bipolar, bei ihm wechselt die Stimmung wie die Wolken bei einem aufkom­menden Sturm, es herrscht ständige Hoch­span­nung, jederzeit könnte ihm wieder eine Flause kommen, eine Grille, oder wie man das sonst noch so nennt, wenn die Ideen von einer unsicht­baren Kraft wie eine Flip­per­kugel hin- und herka­ta­pul­tiert werden und jederzeit die Richtung wechseln können.

»Zwischen Genie und Wahnsinn« lautet die gerne bemühte Formel für solche unsteten Persön­lich­keiten, nahe­lie­gend auch für Damien, denn er ist ein begna­deter Maler. Gerade hat er wieder einen Schub, einen kreativen wohl­ge­merkt, er malt unun­ter­bro­chen Bilder, schläft nicht mehr, der Galerist ist begeis­tert, gibt ihm einen Vorschuss, während Leïla vergebens versucht, Damien zur Ruhe zu bringen. Oder ihm wenigs­tens Lithium einzu­flößen, die Substanz, die richtig dosiert den Bipolaren hilft, das Gleich­ge­wicht zu halten und nicht auf eine Seite hin, zur manischen, die das Leben so aben­teu­er­lich und wunderbar macht, auszu­schlagen. Dazwi­schen steht auch noch ihr gemein­samer Sohn Amine (mit stoischer Ruhe von Gabriel Merz Chammah verkör­pert), der es liebt, wenn der Vater ihn mitreißt. Bis es dann zu peinlich wird und Damien in die Psych­ia­trie muss.

Joachim Lafosse hat in Die Ruhelosen das Portrait eines Unzähm­baren geschaffen und zeichnet aber auch die Anstren­gungen der Angehö­rigen mit. Die Manie des Bipolaren ist mitreißend, Leïla Bekhti übernimmt die Rolle der »Spiel­ver­der­berin«, der Frau, die den Höhenflug zerstört, bis der Film die Perspek­tive wechselt, man ihre Position einnimmt und erkennt, dass Damien nicht wahlweise genial oder wahn­sinnig ist, sondern schlicht und ergrei­fend krank, und dass es dagegen Medi­ka­mente gibt. Das Kind übernimmt die Rolle des Aufpas­sers gegenüber dem Vater, ist aber auch Part eines einge­spielten Teams, setzt den Vater auf offener See aus, weil er es so gewünscht hat, ja, mit dem Motorboot zurück ans Ufer, das schafft er, hat er schon öfter gemacht. Vater und Sohn, partner in crime.

Eine Grat­wan­de­rung: einen Seelen­zu­stand zu schildern, der außer sich ist, mit der Konse­quenz, die Krankheit und das ganze Problem­feld zu erkennen, und trotzdem die manische, lebens­be­ja­hende Energie zu feiern, die sich auch gegen sich selbst wenden kann. Lafosse insze­niert überaus sinnlich und vor allem sehr physisch. Damien Bonnard, der selbst auch im wirk­li­chen Leben malt – die groß­flächigen Film­ge­mälde stammen von ihm –, findet hier nach seinen eher verhal­tenen Darstel­lungen in Polanskis Intrige oder in Ladj Lys Les Miséra­bles zu einer exor­bi­tanten Körper­lich­keit. Er erscheint riesig, unbändig, ener­gie­ge­laden, er durchfegt den Raum, reißt alle mit, sich selbst auch. Leïla Bekhti, ihm an den Fersen, ist der Gegenpol, man hat sie ebenfalls schon oft in Neben­rollen gesehen, in Ein Becken voller Männer, in Ein Prophet, aber nie war sie so präsent wie hier bei Lafosse.

Joachim Lafosse inter­es­siert sich für Paare im Ausnah­me­zu­stand. Sein letzter Film war Continuer (2018), eine Verfil­mung des gleich­na­migen Romans von Laurent Mauvi­gnier, in dem eine Allein­er­zie­hende mit aller Kraft versucht, ihren adoles­zenten Sohn auf einem Trip in Kirgi­si­stan mental wieder einzu­fangen. Auch hier hat Lafosse die pulsie­rende Energie zwischen den Menschen insze­niert, die auf Hoch­span­nung geladenen Bezie­hungen. Oder Die Ökonomie der Liebe (2016), in dem ein Paar, das sich scheiden lassen will, noch eine Weile zusammen unter einem Dach wohnen muss. Lafosse hat hier bewiesen, wie er auch den Einsatz von Musik für die Stim­mungen zu nutzen weiß, wenn sich das Paar an den Händen fasst und das Wohn­zimmer einfach einmal durchfegt. Das wieder­holt sich in Die Ruhelosen. Musik als Ausnah­me­zu­stand.

Lafosse ist ein in Deutsch­land fast über­se­hener Regisseur, denn in allzu großen Abständen kommen hier von ihm Filme ins Kino, um ihn sich beim nächsten Mal richtig gemerkt zu haben. Das aber sollte man tun. Lafosse ist ein Analy­tiker der Zwischen­mensch­lich­keit, der keine Lösungen parat hält und das Leben in seinem ganzen, umfäng­li­chen Vollzug begreift. In seinen Filmen kann man dem Leben und der Liebe bei ihrer inten­siven Arbeit zusehen. Das erschöpft, aber auf eine glücklich machende Weise.