F/D/LT/NL/RUS/UA 2017 · 143 min. · FSK: ab 12 Regie: Sergei Loznitsa Drehbuch: Sergei Loznitsa Kamera: Oleg Mutu Darsteller: Wasilina Makowtsewa, Marina Kleschtschewa, Liya Akhedzhakova, Valeriu Andriuta, Boris Kamorzin u.a. |
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Zermürbenden Sozialrealismus bis zur Kollision |
In Sergei Loznitsas letztem Film Die Sanfte scheint jeder Satz ein Machtinstrument. Wer hier spricht, geht nicht auf jemanden ein, sondern geht von etwas aus. Die Sprache als Behauptungsritual der Menschen, die am lautesten schreien. Was um die vielen pompösen Worte herum geschieht, ist simpel, denn es geschieht über zweieinhalb Stunden eigentlich nicht und dann nur scheinbar: Eine Frau versucht ihren Mann im Gefängnis zu besuchen. Weil das unmöglich scheint, sucht sie die Hilfe von Menschen, die ihr entweder Versprechungen machen oder ihr drohen. Eine schöne Hilfe ist das. Und doch die einzige in Sichtweite. Der größte Gauner im Film weiß es: Sicher ist nur, wer im richtigen Moment schweigt. Weil sie nicht aufgibt, gerät die Frau gleich zweimal unter Terrorismusverdacht. Erst völlig grundlos, als ihr Essenspaket durchsucht wird. Und dann als sie Rechtsbeistand beim Menschenrechtsbüro des Gefängnisses beantragt: »Alle Informationen, die wir hier haben, landen auch beim Geheimdienst. Verstehen Sie mich?«
Davor hat die Leiterin des Büros einen langen Bericht verlesen, der von der brutalen Durchsuchung der Vagina einer Frau erzählt. Die Menschenrechtsdame weint beinahe im Angesicht der Härte, mit der sie täglich konfrontiert wird. Ein Monolog beginnt, der vom Unrecht handelt und von Ressentiments gegen Staatskritik. Und das ist nicht der einzige Monolog, der einfach zu betiteln wäre. Das ist auch der Monolog vom Menschen als Biomasse. Der Monolog vom linken Aufstand und von der Dichtung. Der Monolog über das staatliche Schutzgebiet und seine Chefs. Der Monolog über die Liebe, die sich im Säurebad auflöst. Der Monolog vom Militär, als Lied vorgetragen. Und der wichtigste: Der Monolog über die Gefahren im Schlaf. »Einmal bin ich eingeschlafen und verlorengegangen. Du merkst gar nicht, wie du wegfährst und bleibst selber da.«
Eine geisterhafte Frau in einem traumhaft inszenierten Bahnhof warnt die Heldin davor, nicht die Augen zu schließen. Und dann geschieht es doch und der Film zieht daraus seine Konsequenzen. Die Welt verändert sich, nur einmal, als Hoffnungsschimmer. Eine pompöse Debatte über Gerechtigkeit wird abgehalten. Doch die Regeln sind hier gleich: Monologe sind das Ding. Die Verhandlung von Recht und Unrecht spielt sich nicht als Debatte ab, sondern als unkommentierte Aneinanderreihung, die letztlich nur der Gefängnischef unterbrechen darf. Er unterbricht, wann auch immer er will und spricht dann letztlich selbst am längsten, über das Mitgefühl gegenüber seinen Schutzbefohlenen, das Mitgefühl gegenüber dem leidenden Volk. Und, das ist der eigentliche Punkt, er macht klar, dass sich sein Gefängnis weit über die Mauern eines Gebäudes erstreckt. Der Tag der Einheit von Volk und Gefängnis, das ist der Anlass, der Feiertag, die Ansage. »Dieser denkwürdige Tag ist eine schöne Tradition geworden.«
Verkündet wird der einfache bürokratische Akt in einer pompösen Gala, zu der die sanfte Titelheldin nur als Zaungast eingeladen ist. Denn die Verhandlungen zum Gerechten und Ungerechten sind in Loznitsas Filmwelt keine Sache des Volks, sondern der Herrschenden, die alle Oppositionspositionen an einen Tisch setzen und dann für bedeutungslos erklären. Als ukrainischer Regisseur weiß Loznitsa ganz genau, was die Einheit von Volk und Gefängnis in Russland bedeutet, das Wissen um jedes biografische Detail der Bevölkerung und die rhetorische Aushebelung von Prinzipien des freiheitlichen Lebens. Wie Loznitsas inhaftierter ukrainischer Regie-Kollege Oleg Sentsov ist der weggesperrte Mann in Die Sanfte ein grundlos Verhafteter, der als Mörder angeklagt und aus der Gesellschaft entfernt wurde.
Der Pessimismus von Loznitsas filmischem Vorschlag potenziert sich durch den langen Atem der Buchvorlage Dostojewskis, die 1876 die spirituelle Stagnation der Gesellschaft im Angesicht weltlicher Nöte beklagte. Gleichermaßen wählt er hier eine Vorlage, deren Traditionslinie seine Kritik am gegenwärtigen Regime selbst vor dem konservativen Kunstbegriff der »Klassiker-Adaption« ohne weiteres legitimiert. Doch die Trennungslinien sind klar: Als geübter Dokumentarfilmer versteht sich Loznitsa an der freien Adaption und führt den Film weit von seiner Vorlage. Insbesondere wenn er den zermürbenden Sozialrealismus, der weite Strecken des Films kennzeichnet, in der Schlüsselsequenz des Films mit überzeichnet-theatralen Bilder kollidieren lässt. Bilder, die eher etwas vom grotesken Charme einer Karikatur haben als vom Prickeln einer Satire.
Es scheinen nicht realistische Verbindlichkeiten, sondern offensichtliche Unverhältnismäßigkeiten zu sein, die Loznitsa suchen und erproben will. Unverhältnismäßigkeiten, die sich bei der gegenwärtigen Selbstinszenierung politischer Macht und Rhetorik abzeichnen. Aber ebenso, ins Positive und Souveräne gedacht: Die Unverhältnismäßigkeit des Gefühls einer Frau für ihren Mann im Angesicht allgegenwärtiger sozialer Gewalt. Welches Gefühl spielt sich in dieser Frau ab, wenn sie der alltäglichen Brutalität trotzt? Zu welchen Gegenstrategien ist ihre Psychologie in der Lage? Die Menschenrechtlerin formuliert die Frage als Plädoyer: »Ein Mensch, wie stolz das klingt, sagt Gorki.« Loznitsa interessiert sich für die gewalthaltigen Fragen, nicht eben für den Feinsinn, wenn er der radikalsten Frau des Films den russischen alten Mann in den Mund legt. Und dann bricht sie erneut herein, schon wieder die Vergewaltigung, die die Leidensfähigkeit für eine Gesellschaft auf den Schultern einer guten Frauenseele austrägt. Der Sanften bleibt nicht viel Raum in den Händen des Regisseurs. Sie erwacht aus einem Albtraum und muss einer Unbekannten folgen.