Kanada/F 2013 · 103 min. · FSK: ab 16 Regie: Xavier Dolan Drehbuch: Xavier Dolan, Michel Marc Bouchard Kamera: André Turpin Darsteller: Xavier Dolan, Pierre-Yves Cardinal, Lise Roy, Evelyne Brochu, Manuel Tadros u.a. |
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Kein Moment ohne Anspannung: Tango in der Scheune |
Das Thrillerdrama Sag nicht, wer du bist! ist der neueste Film des erst 25-jährigen frankokanadischen Regiewunderkinds Xavier Dolan (Laurence Anyways), der den Weg in unsere Kinos findet. Dolans Adaption des Theaterstücks »Tom at the Farm« von Michel Marc Bouchard erhielt bei den Filmfestspielen von Venedig 2013 den FIPRESCI-Preis der internationalen Filmkritik. Bouchard hat auch gemeinsam mit Dolan das Drehbuch erstellt. Außerdem spielt die Schauspielerin Lise Roy im Film ebenfalls die Rolle der Mutter Agathe, die sie bereits im Theaterstück innehatte. Sag nicht, wer du bist! ist ein zunächst sehr leiser Film, in dem jedoch im zunehmenden Maße immer stärkere Spannungen und verdeckte Abgründe an die Oberfläche drängen. Toms Trip aufs Land entwickelt sich immer mehr zu einer Reise in die Finsternis.
Tom (Xavier Dolan) ist ein junger Werber aus Montreal, der zur Beerdigung seines Arbeitskollegen und Geliebten Guillaume zu dessen Familie aufs Land fährt. Erstaunt stellt Tom fest, dass ihm auf dem einsamen Gehöft niemand erwartet. Zudem weiß die Mutter Agathe (Lise Roy) seines verstorbenen Freundes weder, wer Tom ist, noch dass ihr Sohn homosexuell war. Tom wiederum wusste nichts von der Existenz von Guillaumes älteren Bruder Francis (Pierre-Yves Cardinal). Jener erscheint als ein recht grobschlächtiger und latent aggressiver Bauerntölpel, der Tom zwingt, der Mutter etwas vorzuspielen, damit deren Bild ihres verstorbenen Sohnes keine Risse bekommt. Tom soll sich als ein gewöhnlicher Bekannter ausgeben und von der gemeinsamen Arbeitskollegin Sarah (Evelyne Brochue) als die Freundin von Guillaume erzählen. Die Ereignisse beginnen immer bedrohlichere und bizarrere Dimensionen anzunehmen, als Francis Tom zwingt auf der Farm zu bleiben.
Ganz zu Beginn wirkt Sag nicht, wer du bist! wie ein recht voraussehbares Drama, das den sensiblen homosexuellen Städter Tom gegen den groben Landbewohner Francis und dessen weltferne und vereinsamte Mutter auszuspielen versucht. Francis macht sofort klar, dass er von Tom persönlich absolut nichts wissen will und dass der nur so lange auf der Farm geduldet ist, wie unbedingt notwendig, um der Mutter die Illusion der Normalität – sprich: heterosexuellen Identität – ihre verstorbenen Sohnes vorzuspielen. Doch unter der Fassade des groben und ignoranten Bauerntölpels scheint noch etwas anderes zu schlummern. Immer deutlicher wird, dass Francis' Aggressivität im Zusammenhang mit dessen eigenen unterdrückten Wünschen steht. Doch an diesem Ort bleiben Dinge, die nicht ins allgemeine Bild passen wollen, nach Möglichkeit unausgesprochen.
Tom bemerkt bei der Beerdigungszeremonie, dass Francis im Ort unbeliebt zu sein scheint. Einen konkreten Grund hierfür mag jener jedoch selbst auf Nachfrage nicht anzugeben. Die Mutter wiederum erweckt den Eindruck, als ob sie mehr vermutet, als sie selbst zugeben mag. Somit bekommt das bereits in sich oft groteske Schauspiel, das Tom und Francis für Agathe veranstalten, eine weitere abgründige Dimension. Es scheint oft so, als spiele Agathe ihrerseits ebenfalls nur die Rolle der naiven unwissenden Mutter. Sag nicht, wer du bist! ist ein Film, in dem Fassaden zu Fassaden sprechen, um eine allgemeine Fassade aufrechtzuerhalten, bei der eigentlich jeder weiß, was in Wirklichkeit dahintersteckt. Die ganze Absurdität dieses Unterfangens wird immer dann sichtbar, wenn die allgemeine Fassade unübersehbar bröckelt, aber so getan wird, als ob nichts geschehen sei.
An einer Stelle »erwischt« Agathe Tom und Francis in einer Szenerie, die nicht in ihr Weltbild passen kann. Zudem macht sich ihr Sohn gerade darüber Luft, wie sehr er sich selbst vom Leben auf dem Land eingeengt fühlt und dass er deshalb nur noch auf das Ableben seiner Mutter warte. Als Francis plötzlich seine Mutter sieht, fragt er sofort besorgt, ob sie verstanden habe, was er gesagt hat. Agathe bejaht dies und handelt zugleich so, als habe sie doch nichts gehört, indem sie die beiden jungen Männer unkommentiert zum Kuchenessen einlädt. Später sitzen die drei am Tisch und Tom soll wieder etwas von Guillaumes angeblicher Freundin Sarah erzählen. Diesmal wartet Tom zur allgemeinen Überraschung mit intimen Details aus dem angeblichen Sexleben der beiden auf. Es sind Dinge, die man niemals einem reinen Bekannten erzählen würde und die eher vermuten lasse, der Sprecher habe sie selbst erlebt. Um solche Gedanken gar nicht erst aufkommen zu lassen, und um das betretene Schweigen zu brechen, platzt Francis mit der Bemerkung heraus, dass diese Sarah anscheinend eine richtige Drecksau sei. Somit geht dieser Versuch Toms sich zu offenbaren in hysterischen Gelächtern unter.
Xavier Dolan, der selbst offen schwul lebt, meint, dass man die Aussage des Films am ehesten mit einem Ausspruch von Michel Marc Bouchard zusammenfassen kann:
»Before learning how to love, homosexuals learn how to lie.«