Saint Omer

Frankreich 2022 · 123 min. · FSK: ab 12
Regie: Alice Diop
Drehbuch: ,
Kamera: Claire Mathon
Darsteller: Kayije Kagame, Guslagie Malanga, Valérie Dréville, Aurélia Petit, Xavier Maly u.a.
Filmszene »Saint Omer«
Aufrechte Medea
(Foto: Grandfilm)

Politische Unheimlichkeit

Alice Diop zeigt in ihrem Gerichtsfilm Saint Omer über eine Kindsmörderin eine zeitgemäße Medea

»Mythen antworten nicht auf Fragen, sie sind die Frage«, schreibt der deutsche Philosoph Hans Blumen­berg in seinem wich­tigsten Werk »Arbeit am Mythos«. Mythen zeichnen sich durch einen bestän­digen Kern aus, der aktuelle Erfah­rungen und Zeit­ge­scheh­nisse zu binden weiß, das ist der »histo­ri­sche Index«, der ihm voran­ge­stellt wird. So kann es zwar sein, dass ein Mythos »verblasst«, wie zum Beispiel der Potsdamer Platz, dem noch Wim Wenders in Der Himmel über Berlin mythi­sches Leben einzu­hau­chen wusste, echte Mythen aber sind selten überholt oder veraltet. Sie erneuern sich durch ihre Fort­schrei­bung fort­wäh­rend neu.

Saint Omer ist der unschein­bare Titel des mit Preisen über­häuften Spiel­film­de­büts von Alice Diop. Sie erhielt den Großen Preis der Jury in Venedig und den Lion Future Award, den César für das Beste Debüt und den Preis des Afro-Ameri­ka­ni­schen Film­kri­tik­ver­bands, um nur eine Auswahl zu nennen. Auch ihr Film ist kräftige, überaus aktuelle Arbeit am Mythos. Es geht um Medea, die mythische Kinds­mör­derin. Im Film ist diese Laurence Coly, eine junge Frau aus dem Senegal, der der Prozess gemacht wird, weil sie ihre 15 Monate alte Tochter an den Strand im nord­fran­zö­si­schen Berck-sur-Mer legte und der anstei­genden Flut übergab. Vor Gericht muss sie sich für die Tat, die sie bereits gestanden hat, recht­fer­tigen.

Und hier beginnt nun die luzide »Arbeit am Mythos« von Alice Diop. Die Filme­ma­cherin hat in der Vergan­gen­heit preis­ge­krönte Doku­men­tar­filme gemacht, die meist in der afro-fran­zö­si­schen Diaspora der Vorstädte spielen. Zuletzt filmte sie in Nous (Wir) in einem Vorstadtzug, der ganz Paris bis in seine Ränder der Banlieue durch­fährt, die schwarz­afri­ka­ni­schen Fahrgäste. Alice Diop selbst hat sene­ga­le­si­sche Eltern, das ist in diesem Fall wichtig, gehört sie doch mit ihren Filmen zu den wenigen Stimmen, die von der schwarz­afri­ka­ni­schen Existenz in einem weißen Frank­reich erzählen und präzises Zeugnis ablegen von der afro-fran­zö­si­schen Situation.

In Saint Omer kehrt sie in den Gericht­saal der gleich­na­migen nord­fran­zö­si­schen Stadt ein. Der Film greift den wahren Fall der Fabienne Kabou auf, einer Philo­so­phie­stu­dentin, die von ihrer Mutter aus dem Senegal nach Frank­reich geschickt wurde. Dort geriet sie an einen wesent­lich älteren, weißen Mann. Sie wurde schwanger, verbarg ihre Schwan­ger­schaft, brachte das Kind allein zur Welt und versteckte es bis zum finalen Mord.

Der Film spielt sich die meiste Zeit in den Verhören ab, überaus sinnlich-körper­lich von Claire Mathon (Marburger Kame­ra­preis) gefilmt, verzichtet weit­ge­hend auf eine Rahmen­hand­lung und vertraut damit fast voll­s­tändig dem gespro­chenen Wort. Die Wahr­heits­fin­dung durch das Zeugnis vor der Justiz ist pure Ratio­na­lität, wie sie schon Voltaire in seinem »Dictionn­aire philo­so­phique« gegen den Mythos in Stellung gebracht hatte: Das Rationale wurde stets dem Mythos entge­gen­ge­setzt, daher auch die bekannte Formel »vom Mythos zum Logos« des Altphi­lo­logen Wilhelm Nestle. Ein Trug­schluss, das hat Hans Blumen­berg heraus­ge­ar­beitet, denn auch Mythos erzählt vom Logos, von den elemen­taren Sach­ver­halten der mensch­li­chen Existenz, gibt Erklä­rungen vom Dasein, die in unbe­stimmte, archai­sche Ferne gerückt werden.

Die Nähe zur mythi­schen Medea überlässt Alice Diop jedoch nicht den Inter­pre­ta­tionen eines altphi­lo­lo­gisch gebil­deten Bildungs­bür­ger­tums, sie verfolgt diese Spur mit der Figur der Rama, einer Schrift­stel­lerin und Lite­ra­tur­pro­fes­sorin, die den Prozess verfolgt, mit einem eigenen Erzähl­strang. Rama ist ebenfalls Sene­ga­lesin, schwanger, hat ihre Mutter nie kennen­ge­lernt und will einen Roman über Laurence schreiben: »Médée naufragée«, die schiff­brüchige Medea. Der Film und der Mythos sind so auch Erzäh­lungen über eine Leer­stelle, über die Ursprungs­lo­sig­keit der Herkunft – und über die Zukunfts­lo­sig­keit des Ursprungs.

Laurence erzählt im Prozess, wie sie in Frank­reich das Haus nicht mehr verließ, an der Seite des weißen Mannes eine Schat­ten­exis­tenz begann und in den Bann eines uner­klär­li­chen Zaubers geriet. Das Motiv von Schatten und Dunkel­heit ist auch für Medea wesent­lich, in neueren Bear­bei­tungen ist sie meist die »schwarze Medea«. Sie teilt das Schicksal der Immi­granten, sich auf der lebens­ab­ge­wandten Seite der Gesell­schaft wieder­zu­finden. Die Phantom-Existenz von Laurence ist ein scharfer Kommentar gegenüber der Aussichts­lo­sig­keit, in Frank­reich Fuß zu fassen.

Alice Diops Film aber bleibt auf einer anderen Ebene opti­mis­tisch. Mit Guslagie Malanda, die für ihre Darstel­lung der Laurence für den César nominiert wurde, hat sie eine Schau­spie­lerin gefunden, die außerdem als selbstän­dige Kunst-Kuratorin arbeitet. Die Lite­ra­tur­pro­fes­sorin Rama wiederum wird von der Schwei­zerin Kayije Kagame gespielt, die aus einer Intel­lek­tu­el­len­fa­milie aus Ruanda stammt. Im Film tritt sie in der Eingangs­szene vor eine Gruppe weißer Schüler*innen, liest einen Text aus Margue­rite Duras’ »Hiroshima mon amour« vor, während ein Film die Depor­ta­tion von Fran­zö­sinnen unter der NS-Besatzung zeigt. Ihr gehe es um die Kraft einer Erzählung, die sich in den Dienst begibt, das Reale zu subli­mieren, sagt Rama über Duras. Keine unwich­tige Notiz, denn Maria N'Diaye, mit der Alice Diop das Drehbuch schrieb, ist wiederum eine gefeierte Schrift­stel­lerin – mit einem Vater aus dem Senegal. Alice Diops Medea aus Saint Omer ist so glei­cher­maßen real gesättigt und mythisch grundiert, und entrückt das Wirkliche in die Sphären einer politisch gefassten Unheim­lich­keit. Der Film kommt insgesamt von den wichtigen Prot­ago­nist*innen eines anderen Frank­reichs, die hier einen Contre-Discours gegen die weißen fran­zö­si­schen Insti­tu­tionen formu­lieren – und gegen den gras­sie­renden Rechts­ruck der Republik.