Indien/Frankreich 2018 · 99 min. · FSK: ab 0 Regie: Rohena Gera Drehbuch: Rohena Gera Kamera: Dominique Colin Darsteller: Tillotama Shome, Vivek Gomber, Geetanjali Kulkarni, Rahul Vohra u.a. |
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Subtile Kritik an den Ungleichskoordinaten der indischen Gesellschaft |
Wenn man dieser Tage sieht, wie Ghandis Vision eines multikulturellen, demokratischen Indiens sich in atemberaubender Geschwindigkeit in sein Gegenteil verkehrt, wie etwa das seit letztem Jahr implementierte neue Curriculum an Schulen die eigene Geschichte umschreibt, dann kann man von einem Segen sprechen, dass es noch die indische Filmindustrie gibt. Denn neben den üblichen eskapistischen Bollywood-Produktionen hat sich der indische Film schon immer auch dadurch ausgezeichnet, kritisch den Stand der Dinge in Indien zu fokussieren – man denke nur an den großen bengalischen Regisseur Satyajit Ray und sein Debüt Pather Panchali (1955) oder an Anurag Kashyaps wuchtig-düsteres Dokudrama Black Friday (2004) oder Ritesh Batras kleines Meisterwerk Lunchbox (2013).
Rohena Geras Die Schneiderin der Träume ist ein weiteres Beispiel für diese »andere Seite«, als wichtiges Gesellschafts-Korrektiv unerlässliches Instrument des indischen Kinos. Gera hat bislang vor allem Drehbücher für Bollywood geschrieben, aber bereits 2013 mit ihrem Dokumentarfilm What’s Love Got to do With it auf sich aufmerksam gemacht, in dem sie acht privilegierte Inder nach ihren Vorstellungen von Liebe, Heirat, Glück und Tradition befragt hatte.
Diese sehr offene Hinterfragung von Klassen- und Kastenverhältnissen, aber auch Gender-Hierarchien und vor allem ihren dokumentarisch genauen Blick für die Feinheiten des Alltags wendet Gera auch in ihrem Spielfilmdebüt an, der im Original-Titel – Sir – noch viel deutlicher auf Geras Grundanliegen hinweist, als der eher verklärende deutsche Verleihtitel.
Denn Gera erzählt eine Geschichte von Herr und Dienerin, die alles andere als verklärt, die in kurzen, präzisen Schnitten zwei Lebensrealitäten nebeneinander stellt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf der einen Seite steht Ashwin (Vivek Gomber), der in Amerika seinen Traum als Autor erfüllen wollte, aber nach dem Tod seines Bruders von seinem Vater ins väterliche Baugeschäft nach Mumbai zurückbeordert wurde und nach einer missglückten Heirat melancholisch zwischen Penthouse-Wohnung und den Baustellen der väterlichen Firma pendelt. Auch Ratna (Tillotama Shome) ist eine »Verlorene«, eine »Träumende«. Als junge Witwe hat sie in ihrem heimatlichen Dorf keine Zukunftschancen und hofft, durch ihre Hausmädchenarbeit bei Ashwin nicht nur das Studium ihrer Schwester zu Ende finanzieren, sondern nebenbei auch eine Ausbildung zur Schneiderin absolvieren zu können.
Gera folgt ihren Hauptprotagonisten jedoch nicht nur in ihren Handlungen und Interaktionen mit Freunden und Familie, sondern legt immer wieder Wert auf die kleinen Details und Rituale des Alltags, die unsere Realität ja immer wieder von neuem konstruieren, auch wenn wir ihr zu entfliehen versuchen. Das selbstverständliche Essen der Dienerschaft auf dem Küchenboden, das nicht hinterfragte Bedientwerden der Bedienten, die Blickrichtungen und die eingefräste Körpersprache zwischen Mann und Frau, die derartig präzise kodiert sind, dass nur ein falscher Satz am falschen Ort – etwa als Ashwin während eines Festes der Mutter überraschend in der Küche auftaucht – sofort eines Korrektivs bedarf.
In einer sich langsam, zart entwickelnden Liebesgeschichte, die realistisch und alles andere als bollywoodesk die gnadenlosen Grenzen von Stadt und Land, Klasse und Kaste ausformuliert, nimmt sich Gera aber auch noch die Zeit für subtile Kritik an anderen essenziellen Ungleichs-Koordinaten der indischen Gesellschaft: das korrupte Bauwesen in Mumbai, die Arbeits- und Wohnverhältnisse der Arbeiter und das grundsätzliche Dilemma des freien Willens und der Identität in einer Gesellschaft, die mehr noch als zu Ghandis Zeiten die Idee des Aufbruchs und der Reform vergessen hat.