Deutschland/Ö 2021 · 112 min. · FSK: ab 12 Regie: Philipp Stölzl Drehbuchvorlage: Stefan Zweig Drehbuch: Eldar Grigorian Kamera: Thomas W. Kiennast Darsteller: Oliver Masucci, Albrecht Schuch, Birgit Minichmayr, Rolf Lassgård, Andreas Lust u.a. |
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Kür für Oliver Masucci (und Birgit Minichmayr) | ||
(Foto: STUDIOCANAL) |
Es ist eines dieser Themen, die nie alt werden und sich so oft anbieten: »Das Buch war besser als der Film.« In den meisten Fällen sind sich da auch alle einig, egal um welches Werk es dabei geht. Und auch wenn man es in Cineasten-Kreisen selbstverständlich weiß, die Literaturverfilmung stellt doch ein ganz eigenes Kunstwerk dar und sollte auch als so eines betrachtet werden. Trotzdem, die direkte Gegenüberstellung drängt sich immer wieder auf.
Zu der hatten Kenner
deutschsprachiger Klassiker in den letzten Monaten mit Dominik Grafs Erich Kästner-Adaption Fabian oder Der Gang vor die Hunde oder der Leinwand-Version der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull von Detlev Buck die Gelegenheit. Philipp Stölzl (Ich war noch niemals in New York, Der Medicus) legt nun mit seiner Bearbeitung der Schachnovelle nach, dem letzten großen Werk von Stefan Zweig. Nach dem Freitod seines Autors erschien es postum 1942 und ist seitdem fester Teil des literarischen
Kanons. Für Stölzl bietet sich hier also eine wunderbare Gelegenheit, sich zu verheben. Aber der Reihe nach.
Was zuerst durchaus nachvollziehbar ist: Rahmenhandlung samt Ich-Erzähler lässt Stölzl weg. Seine Version der Geschichte beginnt gleich mit der Dreh- und Angelfigur Dr. B (hier Josef Bartok, dargestellt von Oliver Masucci), der in Obhut seiner Frau auf einem Ozeandampfer Richtung USA unterwegs ist. Der Mann ist sichtlich traumatisiert, zittert, bewegt sich desorientiert durch das Geschehen auf hoher See. Dabei ist es gar nicht so lange her, da war dieser Herr, von Beruf Nachlassverwalter, noch ein schneidiger und schlagfertiger Salonlöwe der Wiener Oberschicht. Umgeben von Gattin, Vermögen und Freunden konnte den musisch veranlagten Lebemann nichts aus der Bahn werfen. Auch die immer lauter werdenden Nationalsozialisten im Nachbarland nicht. Doch über Nacht bricht seine Welt aus Goethe, Homer und Champagner in sich zusammen: die Nazis fallen ins Land ein und fordern von ihm die Herausgabe der Konten von Adel und Klerus. Anfangs hustet ihnen Bartok auf lässig-aristokratische Art noch was, allen voran dem schmierigen Gestapo-Leiter Böhm (Albrecht Schuch), aber der hat sich für sein Opfer schon die passende Behandlung einfallen lassen: Isolationshaft im Wiener Luxushotel Metropol.
Dass sich Stölzl für seine Schachnovelle die Figur des Dr. B als Mittelpunkt aussucht, ist für den Film sicher die richtige Entscheidung. Das Publikum verfolgt den geistigen Verfall des Protagonisten, der ohne Ansprechpartner, Lektüre und Ablenkung vor sich hin vegetiert. Die Drastik, mit der das dargestellt wird, übersteigt die in Zweigs Buch bei weitem und macht es direkt spürbar, welche Hölle diese weiße Foltermethode bedeutet. Umgeben von Langeweile und den Schreien anderer Geistesgenossen verliert Bartok immer mehr den Verstand. Oliver Masucci, zuletzt zu sehen als Fassbinder in Oskar Roehlers Enfant Terrible, gibt dazu eine Performance, bei der sich alle Körperhaare aufstellen. Das Schachspiel selbst kommt dabei erst in der Mitte des Films zum Zuge.
Unter der bourgeoisen Reisegesellschaft ist der verstörte Mann ein Fremdkörper, fällt durch seinen maßlosen Alkoholkonsum auf und kann auch zurück in Freiheit seine geistigen Kräfte nicht mehr sammeln. Doch er ist nicht der einzige Sonderling an Bord: auch der ungarische Schachweltmeister schippert mit über den Ozean, ein Genie am Spielbrett, doch in jeder anderen Beziehung unfähig zur normalen Interaktion. Die feinen Herren vertreiben sich die Zeit, ihn herauszufordern und reihenweise zu verlieren – bis auf Bartok, der sich in eine Partie einmischt und es bis zum Remis schafft. Dabei hat er, wie er betont, nie einen Zug mit einer Schachfigur vollzogen. In seiner Haft gelang es ihm, ein Buch mit berühmten Schachduellen in seine Zelle zu schmuggeln. Wie ein Besessener stürzt sich der Laie in die Welt der schwarzen und weißen Felder, ins Reich von König, Dame und Bauer und probt so den geheimen Widerstand gegen seine Peiniger. Und am Ende schließlich auch gegen den amtierenden Weltmeister, eine Partie, die für Bartok die Wiedergutmachung seiner Qualen sein soll.
Bei der ganzen Intensität, mit der das inszeniert ist, muss man ein großes Manko an Stölzls Film betonen. Der Dr. B, den Zweig in seinem Buch präsentiert, ist ein ruhiger, dennoch aufgeschlossener und freundlicher Herr. Die Figur in dieser Schachnovelle ist durch und durch psychisch zerstört, man kann sogar schon sagen, er ist ein Schizophrener. Sicher wird es so deutlicher, was das Martyrium aus ihm gemacht hat, doch ist das wirklich nötig? In der Vorlage spart Stefan Zweig den Nervenzusammenbruch bis zum Schluss auf, wodurch die Natur der Traumata noch stärker in den Fokus gerückt wird. Immer wieder können sie ausbrechen, für die Außenwelt unbemerkt beherrschen sie ihr Opfer und erlangen wieder die Oberhand, wenn man sie schon rational gebändigt zu haben glaubt. Stölzls Charakter ist nur noch ein lebendes Wrack, analysieren lässt sich an ihm nicht mehr viel. Es scheint wieder so, dass Nuancen eher als hinderlich gesehen werden, wenn das Publikum das Innenleben einer Figur verstehen soll. Stattdessen muss von der ersten bis zur letzten Minute überdeutlich gemacht werden, dass dieser Mann kaputt ist. So intensiv – und gegen Ende leider auch übertrieben – das gezeigt wird, die wirklich bleibenden Momente, die man im Kopf wieder und wieder durchgeht, fallen so weg.
An sich ist Stölzls Schachnovelle nun ein in sich stimmiger Film, der seiner Vorlage aber zu wenig zu vertrauen scheint. So ist er kein missglücktes, aber doch ein offensichtliches Beispiel dafür, dass der Präsentierteller leider häufig die sicherere Variante darstellt.
»Ich war durch meine fürchterliche Situation gezwungen, diese Spaltung in ein Ich Schwarz und ein Ich Weiß zumindest zu versuchen, um nicht erdrückt zu werden von dem grauenhaften Nichts um mich.« – Stefan Zweig, Schachnovelle
Die guten Nachrichten für deutsche Schulen und den Kanon für den Deutschunterricht reißen nicht ab. Denn so langsam füllt sich eine entsetzliche Lücke, die immer größer zu werden drohte. Denn wenn man schon die Schüler kaum mehr zum Lesen animieren kann, so blieben wenigstens noch die Verfilmungen des literarischen Kanons, um die es aber immer mauer wurde, weil die meist verstaubten, und oft bizarren Verfilmungen, die ab den 1950er Jahren entstanden, ihren Mehrwert gegenüber dem Lesegrauen zunehmend verloren. Aber seit 2019 mit Christian Schwochows Deutschstunde geht es fast nur noch bergauf. Junge, deutsche Schauspieler und Regisseure haben zu einem echten Facelifting beigetragen und Altes wieder in neuem Glanz erstrahlen lassen und es bisweilen sogar geschafft, Lust auf den Originalstoff zu machen, wie etwa 2020 Burhan Qurbanis furioser Berlin Alexanderplatz. Oder falls es an der Interpretation Zweifel gab, dann waren es wenigstens die Hauptdarsteller, die Identifikationsmöglichkeiten boten, wie der einstige wilden Hühner- und Ostwind-Schwarm Jannis Niewöhner in Stefan Ruzowitzkys Narziss und Goldmund oder Tom Schilling in Dominik Grafs Fabian. Oder wieder Tausendsassa Niewöhner in der Adaption von Thomas Manns letztem, fragmentarischem Roman als Felix Krull.
Weniger sexy geht es in der (Wieder-) Verfilmung eines weiteren modernen deutschen Klassikers zu, Philip Stölzls Umsetzung von Stefan Zweigs Schachnovelle. Das liegt in diesem Fall aber nicht an Oliver Masucci in seinen besten Jahren, sondern natürlich an Zweigs brillanter Auserzählung selbst erlittener Traumata durch das Dritte Reich, die ihn auch im Exil nicht ruhen und Zweig schließlich den Suizid wählen ließen, so dass er den Erfolg seiner posthum erschienenen Novelle nicht mehr erleben sollte. Zweig erzählt in seiner Rahmenerzählung knapp und präzise über die Ereignisse auf einem Passagierdampfer nach Buenos Aires, auf dem sich nicht nur der amtierende Schachweltmeister befindet, sondern auch der traumatisierte Freund des Ich-Erzählers, für den das Schachspiel Rettung und Fluch zugleich ist, hat es ihn doch in Gestapo-Einzelhaft vor dem Wahnsinn gerettet, gleichzeitig jedoch auch schizophrene Schübe ausgelöst. Dieser Konflikt wird auf dem Weg in die Emigration durch die Begegnung mit dem Schachweltmeister reanimiert. Für Zweig bedeutete diese Auseinandersetzung nicht nur zwangsläufige Beschäftigung mit seinen eigenen Dämonen, sondern er stellte auch die grundsätzliche Frage, ob es »gesund« ist, sich mit den erlittenen Traumata überhaupt zu beschäftigen oder sie doch besser zu verdrängen, ein Aspekt, der sicherlich auch für den erstaunlichen Erfolg von Zweigs Erzählung in der deutschen Nachkriegszeit verantwortlich war, in der »Verdrängung« ja gewissermaßen die bevorzugte Bewältigungsmethode war, was zu so abstrusen Geschichten wie der Editionsgeschichte von Raul Hillbergs Vernichtung der europäischen Juden führte, die, 1961 erschienen, erst 1982 deutschsprachig erscheinen konnte.
Stölzl interessiert sich in seiner Verfilmung von Zweigs Roman vor allem für ebendiese Dämonen, also für die psychologischen Verhörmethoden der Gestapo und ihre Folgen für die zentrale Gestalt in Zweigs Erzählung, Dr. Josef Bartok (Oliver Masucci), die sich vor allem in einem kaum mehr zu kontrollierenden Zwischenraum aus Wahn und Wirklichkeit manifestiert.
Deutlich betonter als Zweig selbst, stellt Stölzl sogar die Realität der als Rahmenerzählung fungierenden Schiffspassage in Frage und vertraut auf die schauspielerischen Einlagen seines charismatischen Ensembles (neben Masucci gastieren u.a. noch Albrecht Schuch, Birgit Minichmayr und Rolf Lassgård), um den Film zu strukturieren, ihm Halt zu verleihen. Der bei Zweig manifeste und in der Realität verwurzelte Ich-Erzähler, der erzählerisch souverän, zurückgenommen und spannend durch Handlung und Uneindeutigkeiten führt, existiert bei Stölzl nicht. Durch dieses Bekenntnis zur Multiperspektivität und der dementsprechenden »Vernächlässigung« des übrigen Personals wie etwa den Schachweltmeister, der bei Zweig eine durchaus überraschend uneindeutige Persönlichkeit ist, weil er nicht den gesellschaftlichen Standards entspricht, kulminiert Stölzls Film letztendlich in einem schauspielerischen Kürlauf von Oliver Masucci, der nicht nur Zweigs Buch sprachlich und damit auch visuell zuwiderläuft, sondern auch Stölzls Film fragmentiert, der zum Ende immer mehr zerfasert, von NS- und Wahnsymbolen, lauten Momenten und »irren« Kameraperspektiven überfrachtet wirkt und das eigentliche Schachspiel mit all seinen Widersprüchen zunehmend in den Hintergrund drängt.
Das nervt nicht nur, sondern ist zunehmend langweilig, weil Masucci und seine Rolle den dringend notwendigen erzählerischen Raum nicht ausfüllen kann, geschweige denn das zur Nebenfigur degradierte Schachspiel.
Dass eine andere Positionierung gerade des Schachspiels mit seiner psychologischen und auch gesellschaftlichen Bandbreite möglich gewesen wäre (und ja bei Zweig auch erzählerisch sehr elegant genauso angelegt ist), zeigt das gerade bei den Emmys zur besten Miniserie prämierte Damengambit von Scott Frank und Allan Scott. Auch hier wird ein Mensch durch das Schachspiel »gerettet«, droht sich dabei aber auch immer wieder zu verlieren, steht Wahn neben Realität, geht es im Kern ebenfalls um das Überleben und seelische Verletzungen. Nur ist es beim Damengambit große Serienkunst, bei Stölzls Schachnovelle nicht mehr als bemühte TV-Kost, die kaum einen Schüler begeistern, geschweige denn Neugier auf Zweigs große Prosakunst wecken dürfte.