Die Schattenjäger

Les fantômes

Belgien/F/D 2024 · 108 min. · FSK: ab 12
Regie: Jonathan Millet
Drehbuch: ,
Kamera: Olivier Boonjing
Darsteller: Adam Bessa, Tawfeek Barhom, Julia Franz Richter, Hala Rajab, Shafiqa El Till u.a.
Ghost Trail
(Foto: IFFR | Films Grand Huit)

Phantome der Migration

Jonathan Millets politischer Thriller »Schattenjäger« zeigt eine wenig bekannte Dimension der Migration: die Jagd auf die Folterer

Graublau ist die Realität in Straßburg. Hamid ist aus Syrien gekommen, mit dem ersten soge­nannten »Flücht­lings­strom«, es ist das Jahr 2014. Die Nachricht kursiert, dass die Syrer nach Deutsch­land gehen sollen, dort werde man gut aufge­nommen, die Familie könne nach­kommen. Auch Hamid, eigent­lich ein Lehrer für arabische Poesie, hat den Asyl­status für Deutsch­land bereits in der Tasche. Aber er zieht seine Kapuze noch ein wenig höher, versenkt die Augen tiefer in die Höhlen. Bleibt in Straßburg. Hamid gehört der Yaqaza-Unter­grund­gruppe an, die den Schergen von Assad nach­stellt. Denn auch die Kriegs­ver­bre­cher sind in Straßburg und haben Asyl beantragt.

Jonathan Millets Die Schat­ten­jäger (Les fantômes) zielt mitten in den Kern aktueller Migra­ti­ons­dis­kus­sionen, zeigt deren Ambi­va­lenz und die Virulenz, sich eingehend mit Asyl­be­wer­benden zu befassen. Und er macht deutlich: die Vergan­gen­heit lässt sich nicht einfach abschüt­teln, wenn man im sicheren Land ange­kommen ist, sie sucht einen immer und immer wieder heim. Insofern kann auch der Titel in zwei­fa­cher Richtung gelesen werden: Hamid jagt nicht nur die Schatten, die ihm zugesetzt haben, auch er ist ein Gejagter, seiner Alpträume und dunklen Erleb­nisse.

Jetzt, in Straßburg, ist Hamid auf den Spuren seines Folterers. Er war als poli­ti­scher Häftling des Assad-Regimes im berüch­tigten Saidnaya-Gefängnis und tagtäg­lich den Zugriffen von einem ausge­setzt, den alle Harfaz nannten. So richtig gesehen aber hat er ihn nicht, er ist seinem Folterer stets mit einem Sack über dem Kopf begegnet, was aber seine Sinne überaus geschärft hat.

Adam Bessa spielt Hamid mit stechend-leerem Blick, man hat ihn in einer ähnlichen Rolle schon vor zwei Jahren in Lofty Nathans Harkam gesehen. Zunehmend verliert er sich in der nicht belast­baren Vorstel­lung, seinen Folterer gefunden zu haben. Flash­backs vom Gefängnis und der Flucht zemen­tieren seine Entschlos­sen­heit. Dabei ist sein Blick auch verstellt: Das Foto, das er von seinem Folterer im Gefängnis bekommen hat, zeigt diesen unscharf, in der Biblio­thek, in der er Harfaz wieder­zu­er­kennen meint, und zwischen den Bücher­re­galen heimlich foto­gra­fiert, erwischt er nur seinen gesenkten Blick. Mehr und mehr versinkt der Film im Dunkel der Innen­räume, in der grauen, kalten Stadt und in der abwei­senden Kälte der Unge­wiss­heit.

Jonathan Millet ist ein Quer­ein­steiger. Er hat jahrelang mit seiner Kamera Bilder von schwer zugäng­li­chen Regionen der Welt für Daten­banken geliefert, darunter aus dem Iran und dem mittleren Osten. In einer Szene führt sein Film in die steinige Badia-Wüste, in der das Assad-Regime die poli­ti­schen Inhaf­tierten ausge­setzt hat, um sie »loszu­werden« oder besser: dem Tod auszu­lie­fern. Sie werden ohnehin nicht überleben, sagt einer der Männer, der die Gefan­genen, unter ihnen Hamid, aussetzt. Hamid ist ein Totge­sagter. Als Phantom ist er nun inmitten von Straßburg ange­kommen.

Millet hat mit seinem Film letztes Jahr in Cannes die »Semaine de la Critique« eröffnet; in diesem denk­wür­digen Frühjahr 2025 kommt er nun mit aller Brisanz auf die Leinwand. Für den Film hat er viel recher­chiert, hat von den »Schat­ten­jä­gern« gehört, »normalen syrischen Bürgern, die in Europa auf der Jagd nach Kriegs­ver­bre­chern Spionage betreiben«, wie er im Interview erzählt. 2019 kam es durch sie zum ersten Mal zu einer Anklage gegen zwei Funk­ti­onäre des syrischen Regimes wegen Staats­folter, die realen Verhält­nisse grun­dieren den Film.

Den Wahr­heits­ge­halt seines Thrillers stra­pa­ziert Millet jedoch nicht und gibt dadurch seinen Film mit den stil­si­cheren Genre-Effekten niemals dem welt­po­li­ti­schen Betrof­fen­heits­gestus preis; es genügt zu wissen, dass wir es mit realen Verhält­nissen zu tun haben, die sich auf die imaginäre Alptraum­welt von Hamid öffnen. Das allein ist schon beun­ru­hi­gend genug.

Da erkennen wir die Stan­dard­set­tings der Attacken, die uns die Zeitungs­be­richte der letzten Monate einge­brannt haben: wir sehen einen Spiel­platz, auf dem Hamid wie im Spionage-Klassiker von seiner Unter­grund­gruppe Hinweise auf Unter­ge­tauchte des Assad-Regimes zuge­schoben bekommt; wir sehen einen Weih­nachts­markt, auf dem Hamid und Yara (Hala Rajab) – die einzige Person, mit der er überhaupt so etwas wie zwischen­mensch­li­chen Kontakt hat – und auch Harfaz (Tawfeek Barhom) und seine Freundin (Harfaz ist top inte­griert, hat sich umbenannt und spricht nur noch Fran­zö­sisch) von süßem Honig probieren.

Das Spio­na­ge­netz­werk entspinnt sich während­dessen im virtu­ellen Raum einer Gaming-Plattform, auf der die Geflüch­teten unerkannt mitein­ander chatten können. Millet hat dafür eine Counter-Strike-Version entwi­ckelt: In den Ruinen von Aleppo jagen Anti-Terror-Einheiten die Staats-Terro­risten.

Der auch mit deutschen Geldern produ­zierte Film – eine kurze Episode führt in das Land, das den Syrern relativ schnelle Ankunft garan­tiert, Merkels »Wir schaffen das« ist allge­gen­wärtig – zeigt noch einmal eine ganz andere Nuance der momen­tanen poli­ti­schen Groß­wet­ter­lage. Die aktuellen Diskus­sionen um die Zurück­wei­sung von Asyl­su­chenden an den deutschen Grenzen im Kopf, geschieht während des Sehens ein perma­nenter Reali­täts­ab­gleich. Man erkennt: Die Realität, die Hamid erlebt, ist nicht die aktuelle Umgebung von Straßburg und auch nicht seine Situation als Asyl­su­chender. Seine Realität, das sind seine tote Frau und die Tochter, deren Foto er im sandigen Boden seiner Heimat vergraben hat, sind die dunklen Erin­ne­rungen an die qualvolle Folter.

In Jonathan Millets Film hallen die Bilder des gewalt­vollen Bürger­kriegs uner­bitt­lich nach: Das ist der Zugriff der Vergan­gen­heit auf die Gegenwart.