Spanien/Uruguay/Chile 2023 · 143 min. · FSK: ab 16 Regie: J.A. Bayona Drehbuch: J.A. Bayona, Nicolás Casariego, Jaime Marques, Bernat Vilaplana Kamera: Pedro Luque Darsteller: Enzo Vogrincic, Agustín Pardella, Matías Recalt, Tomas Wolf, Diego Ariel Vegezzi u.a. |
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Eine sehr ungewöhnliche Geschichte... | ||
(Foto: 24 Bilder) |
Nicht eine einzige Filmkritik erschien zu diesem Film in deutschen Printmedien nach seiner Premiere in Venedig, nach den Aufführungen in San Sebastian und Sitges und bei »CamerImage« im polnischen Torun. Offenbar brauchen die seriösen deutschen Filmkritiker mehr Kunst oder mehr Bedeutung, um sich für einen Film zu interessieren, oder eine deutsche Schauspielerin im Cast. Dieser Film hat von alldem nichts, jedenfalls nicht im zeitgeistigen Sinn – denn sehr wohl ist er ausgezeichnet gemacht und natürlich gehen die Themen, die er berührt, uns alle an. Universaler könnten sie gar nicht sein.
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Es sollte ein ganz normaler Ausflug werden, ein Wochenendtrip nach Santiago de Chile vor gut 51 Jahren, im Herbst 1972, als diese in ihren Hauptelementen auf Tatsachen basierende Geschichte geschah.
Der Film beginnt sanft. Wir Zuschauer sollen erstmal die Freunde kennenlernen, die in einem Rugby-Team zusammen spielen, sollen sie gemeinsam sehen, und allein mit ihren Familien. Dies ist eine ganz kluge oder zumindest effektive Irreführung, weil man von den bekannten Hollywood- und
Netflix-Sehgewohnheiten ausgehend glaubt: diese Menschen nun werden zumindest alle überleben. Dem ist keineswegs so – auch einige der Figuren, die am meisten ans Herz wachsen, überleben nicht.
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Was auf den sanften Beginn folgt, ist bereits einer der Höhepunkte nicht nur dieses Films, sondern der ganzen Geschichte der Flugzeugabstürze im Film.
Es war das erste Wunder dieses in vielem erstaunlichen Ereignisses, das als das »Wunder in den Anden« in die Geschichte einging, dass die zweimotorige Propellermaschine mit gut 40 Passagieren und 5 Besatzungsmitgliedern in über 4000 Metern Höhe auf eine Weise gegen einen Berg prallte, dass sie zwar auseinanderbrach, aber doch die vordere Hälfte einigermaßen intakt blieb, die Wucht des Absturzes durch den hohen Schnee und ein viele hundert Meter langes Schlittern in einer Talsohle abgedämpft wurde, sodass über 20 Menschen, wenn auch zum Teil schwer verletzt, überlebten.
So bildete sich nun jene »Schneegesellschaft«, die dem Film den Titel gibt. Denn dies ist nicht zuletzt eine Geschichte über Gesellschaft, über das, was Menschen von Tieren scharf trennt und sich gerade dann zeigt, wenn die Unterschiede durch äußere Bedingungen zu verschwimmen scheinen.
Der spanische Regisseur Juan Antonio Bayona, der diese Geschichte in einer uruguayisch-chilenisch-spanischen Koproduktion erzählt, ist bislang durch avancierte Horrorfilme und anderes Genrekino bekannt geworden. Diese Erfahrung nutzt ihm in diesem Fall sehr, denn so weiß Bayona, wie er auch die konkreten, sinnlich-leiblichen und oft genug unangenehmen bis unvorstellbaren Aspekte der nun folgenden Tortur des Überlebens erzählt, dies aber mit den vielen universalen, zum Teil ethisch-philosophischen Aspekten des Geschehens verbindet.
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Denn wie erhält man seinen Lebenswillen über so lange Zeit aufrecht – auch in Phasen tiefster Hoffnungslosigkeit?
Oder ganz konkret: Was tut man mit Toten in so einer Lage? Man kann sie noch nicht mal richtig bestatten. Wie versorgt man die Schwerverletzten ohne angemessene Bedingungen, auch ohne Schmerzmittel?
Es half den Überlebenden, dass einer von ihnen ein mehr oder weniger abgeschlossenen Medizinstudium hatte, ein anderer ebenfalls medizinische Grundkenntnisse.
Wie schützt man sich gegen die beißende Kälte? Wie gewinnt man Wasser aus Schnee? Vor allem aber: Wie ernährt man sich, wenn die Vorräte aus Schokolade, Crackern und Thunfischkonserven zur Neige gehen?
Die Antwort, die hier gegeben wurde, machte Flug 571 weltberühmt, und führte sogar zu einer Absolution durch den Vatikan. Denn nach ungefähr acht Tagen begann man darüber nachzudenken und zu sprechen, und kurz darauf wurde der Tabubruch vollzogen, von den Leichenteilen zu essen. Nur so gelang das Überleben. Aber weil es natürlich ein Tabubruch bleibt, nimmt der moralisch-ethische Umgang damit viel Raum ein in diesem Film.
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Ein großartiges Thema und eine sehr sehr ungewöhnliche Geschichte. Man muss sich hier immer wieder einmal ins Gedächtnis rufen, dass all das tatsächlich geschah, und dass alle, die am Ende gerettet wurden, noch heute am Leben sind.
In seiner Machart ist der Film auf hohem Niveau, aber relativ konventionell und in einigen Aspekten melodramatisch.
Dramaturgisch schwer macht es die Tatsache, dass es keinen wirklichen Antagonisten gibt, keinen Feind. Der Antagonist ist die Natur, ist der Tod selbst. Es gibt für die Figuren nur verschiedene Arten, sich zu verhalten und die Herausforderung an die Zuschauer liegt in diesen verschiedenen Identifikationsangeboten. Ein Zuschauer wird sich, wenn er
hier mitgeht, positionieren.
Das Ganze ist natürlich auch eine Lektion in Techniken des Überlebens. Man braucht Lebenswillen, man braucht harte Entscheidungen, man braucht die Fähigkeit, Prioritäten festzusetzen und zu priorisieren, worauf es ankommt.
Homo Faber im Schnee.