Deutschland 2024 · 91 min. · FSK: ab 12 Regie: Tim Fehlbaum Drehbuch: Moritz Binder, Tim Fehlbaum Kamera: Markus Förderer Darsteller: Peter Sarsgaard, John Magaro, Leonie Benesch, Ben Chaplin, Zinedine Soualem u.a. |
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Dem äußeren und inneren Schrecken auf der Spur... | ||
(Foto: Constantin) |
Allein die zahlreichen Überraschungselemente, die Tim Fehlbaums September 5 mit sich bringt, lohnen den Besuch dieses Journalisten-Thrillers. Da ist zum einen Tim Fehlbaum selbst, der sich bislang und sehr erfolgreich auf dystopische Zukunftsszenarien eingelassen hatte, sei es in Fehlbaums Spielfilmdebüt Hell (2011) oder seinem zweiten Langfilm Tides (2021). Dass er den Spieß nun umdreht und und zu einem Kapitel äußerst dystopischer Vergangenheit reist und sich erzählerisch neu erfindet, ist an sich schon bemerkenswert. Doch fast noch bemerkenswerter ist, dass es Fehlbaum gelingt, eine schon unzählige Male durchdeklinierte Katastrophengeschichte aus dem Jahr 1972 so frisch und spannend zu erzählen, dass sogar jene, die das Olympia-Attentat der palästinensischen Terroristen des Schwarzer September auf das israelische Wettkampfteam sogar noch selbst miterlebt haben, durch Fehlbaums Inszenierung begeistert sind.
Das liegt zum einen an der ungewöhnlichen Perspektive. Denn Fehlbaum entscheidet sich für geschlossene Räume, also ein kammerspielartiges Setting. Und statt auf den eigentlichen Terror-Akt, die Geiselnahme, die Täter und Opfer zu fokussieren, konzentrieren sich Fehlbaum und sein großartiger Mitautor Moritz Binder auf das Team des amerikanischen Sportsenders ABC. Dessen Team um Geoffrey Mason (John Magaro) und Marvin Bader (Ben Chaplin) müssen sich aus dem Nichts plötzlich politisch aufstellen und gleichzeitig die »feindliche Übernahme« eines politischen Senders abwehren. Das ist eindringlich inszeniert. Auch, weil die Olympiade 1972 in München das erste große Sportereignis ist, das über Satellit live übertragen wird. Dementsprechend muss sich das ABC-Team zum ersten Mal die ethische Frage stellen: Wem hilft die Live-Übertragung eines Terroraktes mehr – der nachrichtenhungrigen Öffentlichkeit oder den Terroristen. Diese Bauch-Entscheidungen werden über hektische Dialoge und das bis in die Nebenrollen toll besetze Ensemble eindringlich ausgefochten und ein ethischer Diskurs ins Rollen gebracht, der in heutigen Zeiten nicht weniger relevant sein könnte.
Gleichzeitig zeigt Fehlbaums Film auch, wie nah das Jahr 1972 noch dem Ende des Zweiten Weltkriegs war. Über die Nebenrolle der großartig von Leonie Benesch verkörperten Übersetzerin Marianne Gebhardt, über die ABC versucht am lokalen Puls des Geschehens zu bleiben, und den Bayerischen Rundfunk ebenso zu verstehen wie die tumb handelnde bayerische Polizei, integriert Fehlbaum dann fast schon komödiantische Sentenzen, wenn etwa das ABC-Team fassungslos deutsche Politik und deutsche Polizeistrategie mit dem Satz: »Kein Wunder, dass sie den Krieg verloren haben«, kommentiert.
Doch September 5 – The Day Terror Went Live kümmert sich nicht nur in einem aufregenden Spagat zwischen Fiktion und Fakten um die Kernhandlung, sondern bietet auch einen liebevoll aufbereiteten, rein faktischen Beitrag über das reine Handwerk des Fernsehmachens. Der Zuschauer erfährt etwa nicht nur, wie mühsam es war, sich einen Satelliten-Slot zu buchen, sondern dass reines Handwerk und Pappkartenschnitzereien nötig waren, um Notfälle zu meistern. Und dann natürlich die ungetümen Kameras selbst, das dubiose, semilegale Hin und Her zwischen Sendeort und olympischem Dorf, wo mit analogen Handkameras gefilmt wurde, um später für den Bericht »Live-Footage« zu ermöglichen.
Diese technische Hommage nimmt jedoch nie überhand, sondern ist subtil in die immer stärker kaskadierende Handlung eingebettet, die Fehlbaum souverän seinem Ende zutreibt – so souverän und erkennbare Spannungsbögen des amerikanischen Action-Kinos referenzierend, dass man eigentlich in keinem Moment dieses deutschen Films das Gefühl hat, einen deutschen Film gesehen zu haben. Was dem internationalen und vor allem nur allzu gegenwärtigen Thema dann auch mehr als gerecht wird.
Doch eins unterscheidet Fehlbaums Film dann doch von amerikanischen Journalistenfilmen wie Tom McCarthys Spotlight (2015) oder Steven Spielbergs Die Verlegerin (2017), ist er deutscher als er vielleicht will. Denn anders als diese Filme, die die 4. Gewalt im Staat regelrecht beschwören und ihren Untergang betrauern, oder auch feiern, denkt man an Alan Pakulas unvergessenes Journalisten-Helden-Epos All the President’s Men (1976), sind die Journalisten hier keine Helden. Sie sind nur Helden für einen Moment. Denn schon im nächsten Moment müssen sie feststellen, dass mit der Live-Übertragung ihrer Bilder – die ja in heutigen Worten nichts anderes als der ewig gegenwärtige Datenmalstrom des Internets sind – auch die Unschuld und damit ihr Heldenstatus verloren geht, sie die Kontrolle über die Bilder und damit die Kontrolle über das eigene Narrativ verlieren. Es ist wie die Vertreibung aus dem Paradies und der Beginn der Hölle, in der wir seitdem leben.
»Die Deutschen machen einen Fehler nach dem anderen, und versuchen doch den Eindruck zu erwecken, dass sie alles unter Kontrolle hätten.«
– Leonie Benesch (fiktive) deutsche Figur zu den US-Kollegen in September 5
»Are those gunshots? Waren das Schüsse?« – eigentlich ist dies schon keine Frage mehr, sondern bereits im ersten Moment ein ungläubiges Staunen; eigentlich weiß da der Fragesteller, ein Franzose im Dienst des US-Nachrichtensenders ABC, bereits, wie die Antwort lautet. Aber es kann doch nicht sein – Schüsse im Olympischen Dorf, ausgerechnet hier in München, ausgerechnet während der »heiteren Spiele«, die bislang ein so perfektes Bild eines neuen Deutschland, eines fröhlichen, persilblumenfarbenen demokratischen Landes gemalt haben.
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Es geht um »die heiteren Spiele von München«, um die Olympiade 1972, die diese Stadt, vor allem ihre besten Seiten bis heute geprägt hat.
Es waren die Sportjournalisten von ABC, die sehr sehr früh, früher als andere erfahren haben, dass da etwas Ungewöhnliches im Olympischen Dorf vorging. Sie hörten Schüsse, und sie versuchten diesen Schüssen auf den Grund zu gehen. Über die Geschichte dieses Sportberichterstatterteams, das plötzlich in eine ganz andere Lage und mitten in eine internationale Krise ersten Ranges versetzt wurde und mit der größten, bis dahin geschehenen Live-Übertragung Mediengeschichte
schrieb, handelt der deutsche Film September 5 – ausgesprochen »September Five« –, der bei den Filmfestspielen in Venedig eine gefeierte Premiere erlebte. Man möchte es kaum glauben, aber es ist tatsächlich ein deutscher Film, ein ausgezeichneter Film. Er kommt aus Deutschland und sieht doch gar nicht so aus, als täte er das. Das ist unbedingt als Kompliment gemeint.
Vielleicht liegt es doch daran, dass Regisseur Tim Fehlbaum einen Schweizer Pass
hat; er hat zwar in München an der HFF studiert, aber einen anderen, filmisch viel weiteren, kosmopolitischen Horizont, und dies in seinen zwei vorherigen Filmen, den dystopischen Hell und dem ebenfalls postapokalyptischen Tides bewiesen.
Jetzt hat Fehlbaum de facto einen amerikanischen Film gedreht. Fehlbaum macht es genauso, wie man es machen muss.
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Fehlbaum erzählt hier nämlich eine Geschichte, der er auf den ersten Blick schon im Ansatz auszuweichen scheint: Kann man und darf man die Geschichte dieser dramatischen Geiselnahme, die nach unglaublichem mehrfachem Versagen der polizeilichen Einsatzkräfte und ihrer politischen Befehlsgeber in einem Massaker und der Ermordung aller israelischen Geiseln durch arabische Terroristen endete, darf man dies aus der Binnensicht einer einzigen Nachrichtenredaktion und damit sowohl perspektivisch verengt, als auch doppelt verschränkt als Beobachtung der Beobachter erzählen?
Aber Fehlbaum zeigt uns, was damals die Welt sah. Denn sie sah nur die ABC-Bilder. Das ABC-Studio lag relativ nah neben dem Olympischen Dorf und relativ nah zur Connollystraße 31, in der alles begann.
Der Regisseur greift dabei die moralischen Fragen auf, die sich Medien immer stellen. Darf man berichten? wann? Und wann nicht (mehr)? Journalisten brauchen die Fähigkeit zum Abwägen und dafür im Zweifel zu berichten. Dies ist auch die Fähigkeit und Bereitschaft zum Schuldig-Werden des Menschen, die ein Teil des Lebens ist.
Es gibt hier viele kleine sprechende Details und immer wieder das Einbrechen des Alltags in den Ausnahmezustand: Ist es in Ordnung, Wörter wie »Terrorismus« und »Guerilla« zu verwenden? Was tun, wenn die Live-Kameras Bilder von erschossenen Menschen einfangen? Und geben die ABC-Leute ihr Filmmaterial an die Konkurrenz von CBS weiter, um zu verhindern, dass der Sender seinen Platz auf dem einzigen (!!) Satelliten beansprucht? Sie tun es, aber nur, weil ein Techniker einen Trick findet, wie er »ABC« fest in das Sendebild einblenden kann.
Fehlbaum zeigt uns, wie diese Bilder und wie Fernsehen damals ganz haptisch gemacht wurde: Mit analoger Technik. Filme mussten zum Beispiel immer erst noch entwickelt werden.
»München ’72« war der erste live übertragene Terroranschlag. Bis zu 900 Millionen Menschen haben ihn gesehen.
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Wir werden hier auch Zeugen der massiven deutschen Mitschuld am Tod der Israelis. Dies in dem Sinn, dass die Deutschen mal wieder ziemlich unbelehrbar waren, dass sie nicht wahrhaben wollten, was es für Gefahren gab und dass sie von der Situation komplett überfordert waren. Eigentlich wollten die Israelis schon im Vorfeld ihre eigenen Leute besonders schützen, aber die arroganten Deutschen haben es nicht erlaubt, dass israelische Sicherheitskräfte im olympischen Lauf sein würden. Aber auch als das Schlimmste schon passiert war, gab es noch einmal ein sehr falsches deutsches Verhalten: Die deutsche Polizei hat nämlich ziemlich früh begriffen, dass sie all dem nicht gewachsen war. Aber sie hat keine Konsequenzen daraus gezogen. Die Behörden der Deutschen haben das Angebot der israelischen Regierung abgelehnt, dass israelische Spezialeinheiten zum Einsatz kommen könnten. Diese Einheiten waren bereits am Vormittag vor Ort.
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»Kein Wunder, dass sie den Krieg verloren haben.« Diesen sarkastischen Satz sagt einer der ABC-Reporter, als er dem dilettantischen Versuch einiger deutscher Polizisten zusieht, wie sie in bunte Trainingsanzüge gekleidet und mit unpassenden langläufigen Waffen ausgerüstet, das von den Geiselnehmern besetzte Appartement in der Connollystraße 31 stürmen wollen – und diesen Versuch dann schnell abbrechen.
Die von Leonie Benesch gespielte deutsche Übersetzerin des ABC-Teams erklärt den Amerikanern irgendwann in ihrer eigenen Verzweiflung über ihre Landsleute diese folgendermaßen: »Die Deutschen machen einen Fehler nach dem anderen, und versuchen doch den Eindruck zu erwecken, dass sie alles unter Kontrolle hätten.«
Das gilt bis heute ungebrochen. Es gilt für die Ampel-Koalitionäre der letzten drei Jahre, wie für alle anderen Parteien, für Wirtschaft, Kultur, Medien.
Schließlich der peinliche Auftritt von Regierungssprecher Conrad Ahlers im Fernsehen. Peinlich, nicht weil er einer Falschmeldung aufsaß, sondern in der Art, wie er sie verkündete: Auch wenn Ahlers ein linker Sozialdemokrat und Willy-Brandt-Parteigänger war, so redet er doch hier wie ein Nazi: im Gesichtsausdruck, in Haltung, in Sprache – und in seiner selbstgefälligen Eitelkeit.
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Dieser Film ist hochaktuell: Er erzählt nicht nur vom Umgang der Deutschen mit dem von ihnen begangenen Völkermord, von Verleugnung der Schuld, ihrem Abstreiten und Relativieren und dann natürlich auch von den Konsequenzen, die daraus gezogen wurden.
Dieser Film erzählt davon, dass die Deutschen 1972 versuchten, ein Gegenmodell zu der Olympiade von 1936 zu setzen, und zu zeigen, dass sie etwas gelernt haben, dass sie die Schuld hinter sich gelassen haben, dass sie nunmehr andere Deutsche sind – das hat zehn Tage lang gut geklappt. Am elften Tag der Spiele, dem 5. September, ist diese Illusion auf eine brutale Weise zusammengebrochen. Dieser Film erschüttert im guten Sinn und wirft emotional in diesen Moment des 5. September 1972 zurück.
Fehlbaum zeigt geschickt Bilder vom Besuch der Israelis in Dachau, kurz vor dem Anschlag, 27 Jahre nach dem Krieg.
Dies ist aber auch ein sehr aktueller Film, weil wir, weil die freie Welt seit dem 7. Oktober 2023 wieder konfrontiert ist mit einem Terrorangriff arabischer Terroristen auf Israelis und auf Juden in aller Welt und dies in weit größerem Ausmaß. 1972 gab es zum ersten Mal diese Art von brutalem menschenverachtenden und nicht durch die Behauptung eines Befreiungskrieges zu rechtfertigenden Massaker.
Das hätte nie passieren dürfen. München 1972 ist der Sündenfall unserer Generation. Danach war die Bundesrepublik nicht mehr, was sie vorher gewesen war.
Dieser ausgezeichnete Film bringt das alles in Erinnerung.