Deutschland 2024 · 86 min. · FSK: ab 12 Regie: Narges Kalhor Drehbuch: Narges Kalhor, Aydin Alinejadsomeeh Kamera: Felix Pflieger Darsteller: Baharak Abdolifard, Nima Nazarinia, Saleh Rozati, Thomas Sprekelsen, Carine Huber u.a. |
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Eine deutsche Komödie, die das Wort subversiv und kritisch verdient... | ||
(Foto: Michael Kalb Filmproduktion) |
Die in München lebende Iran-Exilantin Narges Kalhor setzt in ihrem autofiktionalen Film Shahid ein Alter Ego von sich selbst in Szene, die von Baharak Abdolifard verkörpert wird. Sie möchte den mittleren Teil des Namens (der vollständig Narges Shahid Kalhor lautet) loswerden: »Shahid« bedeutet soviel wie »Märtyrer«. Der Namensteil geht auf den Urgroßvater zurück, der im frühen 20. Jahrhundert den Heldentod für seinen Glauben gestorben ist. Seitdem trägt ihn die Familie als Auszeichnung und Ehrentitel. Den religiös-patriarchalen Ballast, der damit verbunden ist, empfindet die Protagonistin als bedrückend.
Die Beantragung der Namensänderung bei den Verwaltungsbehörden gestaltet sich jedoch als sehr mühsam. Insbesondere ein psychologisches Gutachten soll die im Namen manifeste traumatische Belastung nachweisen. Narges Kalhor setzt den Marsch durch die Institutionen, den ihre Protagonistin zu bestreiten hat, in eine vor szenischen Einfällen überbordende Reihe von Tableaus um.
Wenn sie morgens das Haus verlässt, findet sie sich in einem Straßentheater wieder: in einer düster-faszinierenden Choreographie wird sie begleitet von Wiedergängern ihres Märtyrer-Urgroßvaters. Der Reigen aus stilisierten Gestalten, die an Derwische erinnern, belagert jeden ihrer Schritte, ein Albtraum, der sie gelegentlich auch in ihren eigenen vier Wänden heimsucht. Die Phantome der familiären Vergangenheit wollen sie davon abbringen, einen Verrat an der Familientradition zu begehen und das Wort »Shahid« aus ihrem Namen und aus ihrer Existenz zu tilgen.
In einer Art Exorzismus wird diese Szene mit jedes Mal neu überraschenden Varianten durchgespielt. Mantraartig wiederholte Verse wehren die Einflüsterungen der Mullahs ab und führen leitmotivartig durch den Film, um eine poetisch-existentielle Ortsbestimmung der Exilerfahrung vorzunehmen. Der Albtraum erfährt so eine künstlerische Gestaltung, er wird nicht nur erinnert und wiederholt, sondern bearbeitet und in einer poetischen Form aufgehoben.
Das ist überhaupt eines der wesentlichen Verfahren dieses Films. Er greift in performativ-ritualhaften Abläufen die bedrängenden Situationen des Alltags auf, bei den Behörden, beim Therapeuten, bei privaten Begegnungen, und überführt sie in spielerische Konstellationen jenseits von Theater und Film, dramatisch akzentuiert und unterstützt von einer treibenden Musik mit Ethno-Anklängen.
Als eine Art Spielleiter tritt der Künstler saLeh roZati auf. In der Manier eines Bänkelsängers schwenkt er wie ein Magier seinen Zeigestab vor kindlich-naiv wirkenden Wandbildern und erzählt die Geschichte des Urgroßvaters als ironisch-überdrehte Moritat nach.
Auch die Dreharbeiten selbst werden zum Thema, das Making-of des Films geht über in das Endprodukt, ohne dass die Mittel des Aus-der-Rolle-Fallens bemüht oder abgegriffen wirkten. Das Ganze ist vielmehr von unermüdlicher Energie und sprühendem Witz vorangetrieben. So durchzieht den Film insgesamt trotz der düster-ernsten Grundierung ein fröhlich-übermütiger Spieltrieb, der auch die Stereotypen des Blicks auf »Persien« als Material benutzt.
So handelt es sich bei den Tänzern natürlich nicht um Derwische im eigentlichen Sinn, auch die Kostüme sind nicht authentisch. Extra für den Film entworfen, rufen sie entsprechende Klischees ab, um sie in ihrer stilisierten Gestaltung gleich wieder zu brechen und zu verfremden, was auch für die Musik gilt.
Narges Kalhor, deren erster Langfilm In the Name of Sheherezade oder der erste Biergarten in Teheran die dokumentarische Form auflöste und Stereotype neu überschrieb, gelingt mit Shahid ein Kunststück, das das mittlerweile zur Beliebigkeit verkommene Modeetikett der Autofiktion wirklich verdient – weil hier eine eigenwillige schöpferische Form des Umgangs mit der persönlichen Biographie zwischen Ernst und Spiel gefunden wird.
Letztlich gelangt Narges Kalhor auch über die Fixierung auf die individuelle Rolle der Regie-Instanz hinaus. Es geht nicht allein um die künstlerische Einzelleistung der Regisseurin, sondern um filmische Schöpfung als Teamwork, in dem insbesondere die kreativen Beiträge zu Drehbuch und Texten (Co-Autor Aydin Alinejad), Musik (Marja Burchard), Kostüm (eine Künstlerin aus dem Iran), Performance (saLeh roZati), Szenenbild (Ann-Kristin Büttner) und Choreographie (Nina Wesemann) als genuine Elemente hervorzuheben sind.
Der Geist des Urgroßvaters besucht Narges Shahid Kalhor. Er erzählt ihr von der ruhmreichen Geschichte einer Familie von islamischen Kämpfern und Kriegern.
»Shahid« heißt auf deutsch Märtyrer.
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Der Film Shahid beginnt mit einer Traumsequenz im Musicalstil und wird zu einer wilden Mischung aus magischem Realismus, comicartiger iranischer Geschichtentradition, Film-im-Film-Drama und einer wilden Farce über die deutsche Bürokratie.
Die Eröffnungsszene des Films erzählt in poetischen Bildern und in Zeitlupe von Narges’ Obsessionen: Tänzerinnen und Tänzer in schwarzen Gewändern erscheinen nicht nur in ihren Träumen, sondern umgeben sie und folgen ihr auf Schritt und Tritt, selbst wenn sie das Haus verlässt.
Diese Geister sind die Verkörperung der Märtyrerhelden, die Narges’ Familie geprägt haben und die sie jetzt im Namen ihrer Vorfahren verfolgen, bis hin zu den Ämtern der bayerischen Stadtverwaltung. Kurz nach Beginn wird eine lange Liste in Druckbuchstaben auf die Leinwand getippt: Das sind die Bescheinigungen, die benötigt werden, um einen bürokratischen Prozess in Bayern zu beginnen.
Denn die Hauptfigur, die mit der Regisseurin nicht zufällig Ähnlichkeiten
verbinden, will den Nachnamen »Shahid« zwischen Narges und Kalhor loswerden und hat nun auch mit den Geistern der deutschen Bürokratie zu kämpfen.
Aber was passiert, wenn ein Märtyrer auf die bayerische Bürokratie trifft?
Zunächst einmal müssen alle Unterlagen vollständig vorliegen. Es sind eine Menge. Wie in solchen Fällen nicht anders zu erwarten, wird das gesamte Verfahren gestoppt, wenn eine einzige Bescheinigung nicht vorgelegt wird. In diesem Fall handelt es sich um ein Sachverständigengutachten, in dem die psychische Belastung durch den Namen bescheinigt wird. Darum sucht die Hauptfigur einen Psychologen auf.
Dieser Psychologe heißt – einer der vielen lustig-ernsten Einfälle – von Ribbentrop. Wie der Nazi-Außenminister, wie seine mit den Nazis paktierende Adels- und Industriellenfamilie.
Auch mit ihrer eigenen Familie geht die Regisseurin/Hauptfigur streng ins Gericht: Denn ihr Vater war Berater des ehemaligen iranischen Präsidenten Ahmadinehjad. Das bringen einige woke besorgte Statisten »ans Licht« und verkomplizieren die Realisierung des Films. Zumal die Regisseurin plötzlich – wegen ihrer Herkunft – bei einigen Neunmalklugen als »privilegiert« gilt, weil ihr »in nur drei Monaten« Asyl gewährt wurde. Und die arme Regisseurin macht sich solche Vorwürfe auch noch zu eigen. Sie ahnt nicht, dass einige Leute aus dem Team, wenn sie sich unbelauscht glauben, darüber lästern, dass ihr Film »so ein Rich-Kids-Kunstfilm« werden würde.
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Natürlich ist das alles in Wahrheit gar nicht so witzig, sondern bitterböser Ernst. Denn was bedeutet es für eine junge Frau, sich von ihrer Tradition zu lösen! Die kleinen Geschichten, die Kalhor erzählt, beschämen vor allem uns vermeintlich aufgeklärte, vermeintlich an Freiheit interessierte Demokraten.
Auf welcher Seite sollten wir in den Demokratien des Westens uns positionieren? Sollen wir, kulturell verständig und offen, wie wir sein möchten, im Namen von Diversität und
kultureller Identität, jedenfalls so wie wir sie verstehen und im Namen gerade angesagter postkolonialer Gewissensbisse, die Freiheit des Einzelnen und die Freiheit der heute lebenden Frauen einschränken?
»Frau – Leben – Freiheit« – dieser Slogan der iranischen Demokratiebewegung ist weltweit bekannt geworden. Aber auch jenseits des Irans sind die Rechte muslimischer Frauen vielfältig bedroht: Insbesondere der Druck von Traditionen und Familien belastet diese Frauen. Warum das so ist, und wie bereits ein bestimmter Name zu einer Belastung und Gefahr werden kann, davon erzählt die in München lebende, aus einer iranischen Emigrantenfamilie stammende deutsche Regisseurin Narges Kalhor (geboren 1984 im Iran) in ihrem Spielfilm Shahid, der eine Menge biographische Züge besitzt. Sie tut dies in Form einer Komödie, die lustig, ironisch und souverän von der Last der Tradition handelt und davon, was westliche Demokratien der Freiheit der Frauen schuldig sind.
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Die erwähnte Anfangssequenz wird zu einer Art Leitmotiv des Films, und sie wird mehrmals wiederholt, aber immer wieder mit neuen und amüsanten Details angereichert: Narges – oder besser gesagt, die Schauspielerin, die hier die Rolle der Regisseurin spielt – kommt wieder aus dem Haus, umgeben von ihren Shahids und seinen »Kumpels«, wie es im Film heißt. Wenn Narges in der ersten Einstellung mit dem Fahrrad fuhr und der Reifen des Rades zerstochen wurde, geht sie jetzt zu Fuß und einer ihrer gemarterten Vorfahren folgt ihr zum Beispiel mit dem Fahrrad auf der Schulter.
Zwischen Realität und Fiktion, voller Poesie mit Elementen von Theater, Film und Musical spielend, ist Shahid trotz der Komplexität seiner Thematik und Umsetzung ein unterhaltsamer Filmhybrid, der, ohne je in plumpe Didaktik zu verfallen, viele Anregungen und Denkanstöße bietet. Darüber hinaus untersucht er mit Selbstironie die Schatten der Geschichte, die sich sehr oft selbst hinter kleinen Dingen wie einem vermeintlich einfachen Namen verbergen.
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Mit anderen Worten: Dies ist wirklich einmal der Fall einer deutschen Komödie, die das Wort subversiv und kritisch verdient. Einer Komödie, die nicht einverstanden ist mit dem Bestehenden, die weder konservative Familienideale propagiert, die mit der gelebten Wirklichkeit schon längst nichts mehr zu tun haben, noch naive Idealbilder von Diversität und Multikulti.
Diese Regisseurin weiß, worin die böse Macht der Traditionen liegt. Sie weiß, was die Unterdrückung von Frauen durch Väter wie Mütter bedeutet. Auch in ihren Lebensverhältnissen gilt: »Familie ist ein Terrorzusammenhang« (Alexander Kluge).
Auf gelassene, ironische, sehr souveräne Art macht sich dieser Film über die deutsche Bürokratie lustig und über all das, was in Deutschland schon lange schief läuft.
Wenn es um die Lebensverhältnisse im Iran und um die Tradition des Islam geht, dann ist die Regisseurin verständlicherweise viel weniger gelassen. Ein Film gegen die Lebenslügen einer Gesellschaft, die immer noch keine Einwanderungsgesellschaft sein will, obwohl sie dies längst ist.
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»'Shahid' ist Narges Kalhors witzige, bilderreiche Autofiktion und persönliche Selbstermächtigung im Exil, die mit jeglicher Form von radikaler Ideologie abrechnet.«
- Süddeutsche Zeitung, 31.07.24