Japan 2018 · 121 min. · FSK: ab 12 Regie: Hirokazu Kore-eda Drehbuch: Hirokazu Kore-eda Kamera: Ryûto Kondô Darsteller: Lily Franky, Sakura Ando, Mayu Matsuoka, Kirin Kiki, Kairi Jyo u.a. |
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Die Familien-Bande |
Ein Sohn und sein Vater gehen in einen Supermarkt. Osamu und Shota verständigen sich ohne Worte, geben sich Handzeichen. Ist einer von ihnen taubstumm? Nein! Ganz anders: Die beiden sind auf Diebestour. Wir sehen, wie geschickt sie zusammenarbeiten, wir verstehen sofort: Das geschieht nicht zum ersten Mal, es ist Routine.
Als die beiden mit vollen Taschen nach Hause kommen, lernen wir auch den Rest der Familie kennen. Sie besteht aus drei Generationen und sie lebt zu sechst auf engem Raum in einem kleinen, kaum drei Zimmer umfassenden Appartement. Der Vater arbeitet auf dem Bau, die Mutter Nobuyo in einer Reinigung. Sie haben wenig Geld, aber sie sind glücklich. Zueinander sind sie überaus warmherzig. Sie kümmern sich umeinander. Es gibt zwar kleine Streitereien, spürbare Unzufriedenheit –
Familie halt.
Aber insgesamt ist ihr Verhältnis von Großzügigkeit geprägt, von Humanität und Liebe.
Nach einer ihrer nächsten Diebestouren begegnen die beiden in einer kalten Winternacht einem kleinen Mädchen. Yuri ist vollkommen verwahrlost, wurde von ihren Eltern bei der Kälte auf den Balkon gesperrt und wimmert. Kurzerhand tun sie, was sie am besten können: Sie »klauen« das Mädchen und nehmen es für eine warme Mahlzeit mit nach Hause.
Und dann, als Osamu und Nobuyo auch noch die Striemen an ihrem Körper entdecken, beschließen sie, dass sie einfach dableiben kann. Und nach und nach verstehen wir: Die ganze Familie ist eine einzige Wahlverwandschaft. Sie waren Obdachlose, Verwahrloste, Alleingelassene, und haben sich selbst freiwillig zu einer Zweckgemeinschaft gefunden, die schnell emotional und durch Loyalität unterfüttert wurde. »Zusammen wird es uns warm«, sagt die Großmutter, wenn sie sich abends
aneinanderschmiegen. Mithilfe von kleinen Betrügereien steigern sie ihr Einkommen, und leben insgesamt glücklich zusammen. Doch trotzdem ist alles auch von Anfang an prekär. Letztendlich geht es dauernd ums Geld. Die Gefahr, ertappt zu werden, ist ständig präsent, und nun, durch Yuris Anwesenheit, noch erhöht.
Wir ahnen: Es wird nicht ewig derart harmonisch weitergehen – ein bittersüßer Ton durchzieht die Verhältnisse.
Der Japaner Hirokazu Kore-eda hat für Shoplifters im Mai in Cannes die Goldene Palme gewonnen. Das war eine hochverdiente Auszeichnung für diesen Regisseur, der seit 20 Jahren einen ausgezeichneten Film an den nächsten reiht. Shoplifters ist ein wunderbarer Film, aber längst nicht der beste des Regisseurs. Kore-eda hat noch eine gute Handvoll noch besserer Filme gemacht. Zum Beispiel: Nobody Knows, Still Walking, Unsere kleine Schwester; The Third Murder.
Kore-edas Filme verdienen alle unbedingt unsere Aufmerksamkeit. Mit Shoplifters kehrt er wieder zu einem seiner Hauptthemen zurück, einem Thema, das ihn seit zwanzig Jahren begleitet: Die Lage der Kinder in modernen Gesellschaften.
Nur wenige Filmemacher sind ähnlich große Humanisten wie Kore-eda, kaum einer hat die Fähigkeit, ähnlich gut mit Kindern zusammenzuarbeiten, und das diffizile, in jedem Fall einmalige Geflecht einer Familie auf die Leinwand
zu bringen. Meisterhaft leicht und subtil und mit viel Poesie erzählt der japanische Regisseur vom Leben, der Liebe und den Menschen. Dabei zeichnet Kore-eda seine Figuren immer einfühlsam und liebenswert, voller Würde. Immer ist in seinen Filmen auch die Gesellschaft, das Japan von heute mit seinen Widersprüchen präsent. Gerade in seinen letzten Werken blickt Kore-eda auch zunehmend genau auf das Wirken von Institutionen.
Shoplifters erzählt von der Doppelmoral seines Heimatlandes Japan. Auf der einen Seite zeigt er eine gefühlskalte, aber sich sozial korrekt verhaltende Gesellschaft. Ihr gegenüber stellt er auf der anderen Seite die alltägliche Wärme einer kleinkriminellen Familie in prekären Verhältnissen. Diese Konfrontation enthält einen universalen Befund, der für viele Länder der westlichen Konsumgesellschaften, längst nicht nur für Japan gilt.
Das untergründige Leitmotiv von Shoplifters ist daher auch nicht etwa Diebstahl, denn diese Diebe stehen ganz eindeutig auf der moralisch richtigen Seite des Lebens. Es sind nicht Recht und Gesetz, und es sind auch nicht die Kinder aus der Sicht von Institutionen, die immer so genau wissen, was für jeden von uns richtig und was falsch ist.
Legalitätsfetischisten kann man immerhin damit trösten, dass am Ende irgendwann die Polizei kommt und Menschen ins
Gefängnis müssen; Institutionenverehrern wird gefallen, dass die Kinder zum Schluss in den eisernen Klauen (jaja: den festen Händen) und Bürokratie-Mühlen der Fürsorgeämter landen.
Ob es ihnen da aber besser geht? Das genau ist eine der Fragen, die Kore-eda stellt. Und er sät Zweifel an solchen Annahmen. Das eigentliche Leitmotiv seines Films ist die Familie. Was macht sie aus? »Brauchen Kinder ihre leibliche Mutter, oder stellen sich das jene nur gern vor?« – so lautet eine der Fragen, die im Dialog beiläufig fallen.
Eine zweite, zentrale Frage: Will die moderne Gesellschaft ihre Bürger nur bestrafen, regulieren, disziplinieren und kontrollieren, oder
will sie die Menschen in ihr auch glücklich machen? Wozu dienen Recht und Gesetz, diese noblen Institutionen in der Praxis kapitalistischer Gesellschaften? Zur Zeit eher nicht den unteren Schichten unserer neuen Klassengesellschaft. Sie sind die Entrechteten, die »sans papiers« des 21. Jahrhunderts. Zwar haben sie Papiere, aber auch die sind nur ein Mittel der Kontrolle und neuen Knechtschaft.
Ohne zu belehren oder zu verklären ist die Position des Regisseurs glasklar: Familie ist durch Liebe gekennzeichnet und durch Loyalität, durch gemeinsamen Spaß und durch Verlässlichkeit. Um Blut, Gene und Abstammung geht es nicht. Wahlverwandtschaften sind dicker als Blut.