TR/D/F/L 2018 · 95 min. · FSK: ab 12 Regie: Çagla Zencirci, Guillaume Giovanetti Drehbuch: Çagla Zencirci, Ramata Sy, Guillaume Giovanetti Kamera: Eric Devin Darsteller: Damla Sönmez, Emin Gürsoy, Elit Iscan, Meral Çetinkaya, Erkan Kolçak Köstendil u.a. |
Sie pfeifen sich eins: Dass sich die 25-jährige Protagonistin in Çagla Zencircis und Guillaume Giovanettis drittem Spielfilm nur über Pfeiflaute verständigen kann, erweist sich als wirkungsvoller Kunstgriff. Markiert wird damit die Außenseiterrolle der stumm geborenen Sibel (Damla Sönmez), die mit ihrem Vater Emin (Emin Gürsoy) und der jüngeren Schwester Fatma (Elit Iscan) in einem abgelegenen Bergdorf am Schwarzen Meer lebt. Auf die anderen Frauen, mit denen sie es täglich bei mühsamer Feldarbeit auf einer Teeplantage zu tun bekommt, wirkt das Handikap des Mädchens gar als ansteckend. Das liegt am Schutzpanzer, den sich die wilde junge Frau im Laufe der Jahre zugelegt hat. Darunter schimmern Verletzlichkeit und Suche nach Nähe durch.
Die Sprachunfähigkeit von Sibel gibt dem Regieduo die Möglichkeit, auf Dialoge verzichten zu können. Vielmehr konzentriert sich die Inszenierung besonders zum Einstieg im Wechsel mit stimmungsvollen Totalen auf eine dynamische Handkamera, die der Protagonistin beim Streifzug durch die Wälder folgt, und auf die Schauspielkunst der großartigen Damla Sönmez. Was der Titelfigur an Sprache fehlt, macht Sönmez mit ihrem Spiel aus Widerwillen, Trotz, Stolz und verletztem Selbstbewusstsein wett.
Für den alleinerziehenden Vater ist Sibel sowohl Ehefrau- als auch Sohnersatz. Ihr fällt die Bürde der täglichen Haus- und Küchenarbeit zu. Anderseits vermag sie ihre Aufgaben zum Vorteil zu nutzen, um den Erzieher, der gleichzeitig Bürgermeister und Ladenbesitzer des Dorfes ist, in die gewünschte Richtung lenken zu können. Schwester Fatma, die nur auf eine baldige Hochzeit wartet, erweist sich als weitaus konservativer und rückwärts gewandt. Da sie Sibel als Last empfindet – besonders, wenn der Vater sie als quasi Wächterin mit zu einer Feier schickt, passt sich Fatma den abschätzigen Reaktionen der anderen Dorfbewohnerinnen an. Sibels Appell für Bildung und Emanzipation prallt an ihr ab, da sie keine Außenseiterin sein will.
Respekt soll ein wilder Wolf einflößen, den Sibel auf ihren Jagdzügen durch die unübersichtlichen Schwarzmeer-Wälder zu erlegen sucht. Zunehmend verdichten sich die Hinweise, dass das angeblich gefährliche Tier nicht existiert und nur in die Welt gesetzt wurde, um Frauen in ihre Schranken zu weisen. Durchgehend bestimmen Lügen, Ressentiments und Grenzen den Verlauf des dunklen Liebesdramas: Immer noch wartet eine geistig verwirrte ältere Einsiedlerin auf die Rückkehr ihres Liebhabers, dem ein übles Schicksal zukam. Einen verletzten Deserteur, den Sibel in den Wäldern trifft und der zu ihrem einzigen Vertrauten wird, stempelt die Öffentlichkeit als Terrorist ab. Mit dem Terrorverdacht lässt sich rasch jedes Gegenargument brechen. Bei einer Abkehr von Normen und Konventionen drohen Gewalt und Tod. Bald wird deutlich, dass Geheimnisse vor der Öffentlichkeit langfristig keine Zukunft haben, was den Spannungsbogen unterstützt. Sibel denkt jedoch nicht daran, den vorgezeichneten Weg in den Wahnsinn oder den der widerspruchslosen Unterwerfung einzuschlagen.
Seit 2004 drehen Çagla Zencirci und Guillaume Giovanetti zusammen Filme. Dass das in Locarno mit dem FIPRESCI-Preis der internationalen Filmkritik prämierte Werk als Kritik am vorgezeichneten Rollenmodell von Frauen ähnlich wie Mustang als internationale Co-Produktion entstand, wirkt naheliegend. Ihr dritter Spielfilm weist Motive früherer Arbeiten auf. Das Schicksal des Einzelnen vor der Urgewalt der Natur, die Reibung von Tradition und Moderne, Umgang mit Behinderungen, Mythologien oder Liebe als Ausweg aus dem Außenseitertum, all das fand sich in Ansätzen schon in Noor über einen pakistanischen Transgender-Jugendlichen oder in Camera Obscura über die Arbeit mit gehandikapten Menschen in einem Film-Workshop (beide 2012). In der Besetzung von professionellen Akteuren und Laien manifestiert sich ein offener Blick auf das Anderssein, das in einem visuell aufregenden und inhaltlich packenden Konzept mündet.
Ein zeitloser Kinofilm aus Anatolien: Mit Sibel (Damla Sönmez) als die sprachlose junge Frau, haben die Regisseure Guillaume Giovanetti und Cagla Zencirci ihren dritten gemeinsamen Spielfilm gedreht, den sie Sibel, wie ihre Heldin, genannt haben und der sich als durchaus spektakulär erweist.
Sibel kann nicht sprechen – dafür aber sich in der im Ort Kusköy verwendeten Pfeifsprache unterhalten. Kusköy gilt als die »Stadt der Vögel«, das türkische Dorf liegt mitten in den Bergen am Schwarzen Meer. So ist dieses Kommunikationsmittel eine sehr gute Möglichkeit, um von einem Berg zum anderen Anweisungen zu geben oder sich zu unterhalten. Die Pfeifsprache ist das eigentliche Thema des Films, Sibel beherrscht sie perfekt, was sie aber zur Außenseiterin gegenüber ihren Mitmenschen macht, da sie sich sonst nicht sprachlich artikulieren kann. Sie ist stumm. Der Film erzählt, wie sie in ihrer Heimatstadt mit ihrem Vater, dem Bürgermeister, und an der Seite ihrer Schwester Fatma, die sich immer wieder für sie schämt, sich auf die Suche nach Anerkennung macht.
Ein Wolf, der in den Bergen herumstreunen soll und die Gegend unsicher macht, kommt ihr gelegen. Tötet sie den Wolf, wäre ihr die Anerkennung des Dorfes sicher. Doch ob dieser Wolf wirklich existiert, kann keiner so genau sagen. Funde von Knochen, die Sibel bei ihren Erkundungen im Wald macht, bewahrt sie als Beweisstücke seiner Existenz auf. Täglich ist sie im Wald unterwegs. Dabei trifft sie auf einen verletzten jungen Deserteur namens Ali (Erkan Kolcak Köstendil), der sich in den Bergen versteckt hält. Er wird ist als Terrorist abgestempelt und wird vom Dorf gesucht, nicht zuletzt von ihrem Vater, dem Bürgermeister. Sibel ist hin- und hergerissen zwischen Ali, der ihr Ansprechpartner und Vertrauter wird, und auch mit viel Charme ausgestattet ist, und dem verwitweten, fordernden Vater, der an ihre Tochterpflichten appelliert. Außerdem ist da noch ihre heiratswillige Schwester Fatma, die das plötzliche Interesse von Sibel am Wald argwöhnisch beobachtet und ihr hinterherstellt.
Während Sibel ihre Stellung als Hausherrin ausnutzt und unbemerkt Ali Lebensmittel bringt, widmet sich Fatma ihrer baldigen Hochzeit und stellt sich gegen Sibel, die wie ein Stigma auf ihrer eigenen Stellung im Dorf lastet. Sibels einzige Freundin ist Narin, eine alte Frau, die zurückgezogen in den Bergen in einer einsamen Hütte vergeblich darauf wartet, dass ihr Mann zurückkommt. Ein in sich geschlossenes System der Außenseiterinnen, könnte man meinen. Doch Sibel trägt mehr als ihre Behinderung mit sich. Sie ist die einzige Frau im Dorf, die kein Kopftuch trägt, alleine in den Wald darf und sich auch alleine reintraut. Keine andere Frau wagt es, die von ihrem Vater geduldeten Stellung einzunehmen. Wenn sie mit ihrem roten Halstuch wirkt sie wie eine Partisanin, die für die Freiheit in den Kampf zieht. Dennoch wäre für Sibel die Anerkennung durch die Dorfgemeinschaft so etwas wie der Himmel auf Erden. Sie gibt ihr Bestes, hilft auf dem Feld mit, ist für das Dorf ständig auf Wolfsjagd, und doch erntet sie von den anderen Frauen nur Sprüche wie: »Geh weg, sonst wird mein Ungeborenes noch so wie du. Gott bewahre!«
Sibel ist ein wahres Naturtalent – trotz Behinderung ist sie eine emanzipierte junge Frau. Dass dies in einem Dorf nicht selbstverständlich ist, zeigt der Film sehr gut. Wenn man von Talent sprechen möchte, ist zu nennen, dass alle Dialoge, die in Sibel mit der Pfeifsprache durchgeführt werden, real sind. So hat die talentierte Schauspielerin Damla Sönmez extra einen Pfeifsprachen-Kurs belegt bei einem eigenen Coach.
Außerdem ist die Tatsache, dass ein Paar Regie führt, eine Rarität im Kino. Das französisch-türkische Paar Çagla Zencirci und Guillaume Giovanetti haben schon bei mehreren Kurzfilmen zusammen realisiert. Ihre beiden Erfolgsfilme Noor (Pakistan, 2012) und Ningen (Japan, 2013) kamen zwar bei uns nicht ins Kino, liefen aber auf den wichtigen internationalen Festivals. Auf die Geschichte von Sibel kamen sie erst durch ihre Recherche: »Während dieser ersten Reise (nach Kusköy, Anm. d. A.), trafen wir auf eine junge Frau aus dem Dorf. Zuerst hatten wir den Eindruck, sie sei stumm und würde sich nur in der Pfeifsprache unterhalten. Dann verschwand sie plötzlich in der Wildnis. Das inspirierte uns zu der Figur der Sibel.«
Diese persönliche Erfahrung gibt Sönmez eine strahlende Rolle, mit viel Elan und Aufopferungsbereitschaft.