Deutschland 2015 · 86 min. · FSK: ab 12 Regie: Michael Krummenacher Drehbuch: Silvia Wolkan, Michael Krummenacher Kamera: Jakob Wiessner Darsteller: Anne Ratte-Polle, Thomas Loibl, Dennis Kamitz, Helene Blechinger u.a. |
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Verschmelzung von Alltag und Wahnsinn |
Sibylle (Anne Ratte-Polle) ist mit ihrem Mann Jan (Thomas Loibl) und den Söhnen David (Dennis Kamitz) und Luca (Levi Lang) im Italienurlaub am Gardasee. Nachdem sich die Familie gemeinsam eine krawallige Stuntshow angesehen hatte, läuft Sibylle am nächsten Morgen alleine eine steile Felsklippe entlang. Plötzlich kommt ihr eine Frau entgegen, die Sibylle zum Verwechseln ähnlich sieht und stürzt sich in die Tiefe. Völlig entgeistert läuft Sibylle die Klippe herunter und beugt sich über die Frau. Plötzlich schreit die bereits totgeglaubte Sibylle die Worte entgegen: „Alles verändert sich!“
Dies ist der Beginn einer immer verwirrenderen Kette unheimlicher und bizarrer Ereignisse, die auch dann nicht abreißt, als die Familie ins heimatliche München zurückkehrt. Selbst die Alltäglichkeit der Familie ist von Spannungen geprägt: Im gemeinsamen Architekturbüro rivalisiert Sibylle mit ihrem Mann und die aggressive Männlichkeit ihres pubertierenden Sohns David ist der Mutter zutiefst zuwider. Ist das überhaupt noch ihre Familie oder wurde diese gar durch Außerirdische ersetzt?
Mit viel erzählerischem Geschick und großem visuellem Ideenreichtum erzählt der Schweizer Regisseur Michael Krummenacher in seinem Abschlussfilm an der Hochschule für Fernsehen und Film München von einer Frau, welcher die Realität immer mehr entgleitet. Dabei schimmern durchaus die großen Vorbilder, wie Roman Polanski (Ekel), Stanley Kubrick (Shining) und David Lynch durch, aber Michael Krummenacher gelingt es, daraus etwas Eigenes zu formen.
So verzichtet Krummenacher weitestgehend darauf, in spektakulären Effekten zu baden und konzentriert sich stattdessen umso stärker auf die klare Schilderung der zunehmenden Verwirrung der Protagonistin. Dies funktioniert, da Anne Ratte-Polle (Willenbrock) Sibylle sehr differenziert, facettenreich und überzeugend darzustellen vermag. Mal erscheint Sibylle als schlicht überreizt und Burn-Out-gefährdet, dann wieder bricht sich der Wahn mit ungeahnt brachialer Kraft seine Bahn.
All dies schildert der Filmemacher mit einer großen Nüchternheit, von der sich nur vereinzelte visuelle Kabinettstückchen und komplett irreale Einsprengsel in betonter Surrealität absetzen. Der realistische Grundton trägt zu der überwiegend sehr gelungenen zunehmenden Verschmelzung von banaler Alltagsrealität und zunehmendem Wahnsinn bei. Darüber hinaus wird der Zuschauer auf diese Weise umso stärker in die Hauptfigur hineingezogen und betrachtete diese Welt mit den Augen von Sibylle. Aus diesem Grunde ist diese Realität so alltäglich und zugleich so befremdlich und erschreckend.
Sibylle ist im Vergleich zu seinen berühmten filmischen Vorbildern von relativen Kargheit, die zu einem Teil sicherlich dem sehr geringen Budget geschuldet ist, das es Filmemachern in Deutschland – und noch mehr hiesigen Filmhochschulabsolventen – selten erlaubt, ihre Kreativität voll auszureizen. Ob Sibylle optisch eher einfach gehalten ist, weil Krummenacher schlicht kein Geld für visuelle Exzesse zur Verfügung stand oder ob dies ein integraler Teil seiner Filmsprache ist, wird erst die Zukunft zeigen.
Letztendlich ist diese Frage wie die nach dem Huhn und dem Ei. Ohne direkte qualitative Vergleiche anstellen zu wollen, ist beispielsweise Christian Petzolds Yella von ähnlich nüchterner Qualität wie Sibylle, obwohl Petzolds offensichtlichste Vorbilder zu Yella wüste Werke, wie David Lnychs Psychonoir-Horror Lost Highway und Brian de Palmas pulpiger Erotikthriller Femme Fatale sind.