Sieger sein

Deutschland 2024 · 119 min. · FSK: ab 6
Regie: Soleen Yusef
Drehbuch:
Kamera: Stephan Burchardt
Darsteller: Dileyla Agirman, Andreas Döhler, Sherine Ciara Merai, Tamira Bwibo, Halima Ilter u.a.
Filmszene »Sieger sein«
Schule – die einsamste Sache der Welt...
(Foto: DCM Film Distribution GmbH)

Integration auf Fußball

Soleen Yusefs Jugendfilm über Migration und Integration ist auch ein toller Fußball-, Schul- und Berlinfilm. Und dabei auch noch politisch und spannend erzählt. Mehr geht eigentlich kaum

Wer die Kinder- und Jugend­filme der letzten Jahre mit all ihren Best­seller-Adap­tionen gesehen hat, weiß, wie schmerz­haft das sein kann. Man denke nur an die erzäh­le­ri­schen Tiefer­schatten in Die Chaos­schwes­tern und Pinguin Paul, um nur die letzte Kata­strophe zu erwähnen. Bei Kinder- und Jugend­filmen ist es ein wenig wie mit dem modernen Theater. Die Tref­fer­quote ist beängs­ti­gend niedrig. Ich würde sie auf 1 zu 7 schätzen. Also auf sieben Filme sechs Mal Schrott und einmal Gold. Das ist die bittere Wahrheit. Ungelogen.

Dement­spre­chend süß ist dann natürlich auch der Moment eines Treffers, eine Möglich­keit, die besonders hoch ist, wenn eine der wunder­barsten Initia­tiven des deutschen Kinder­films mit im Team ist, Der besondere Kinder­film, der in seinem Förder­mo­dell gerade nicht auf etablierte Marken, sondern auf originäre Stoffe setzt und auch hier ein wenig mehr als nur die Trikots gespon­sert hat. Was im Fall von Sieger sein zu einem klas­si­schen Traumtor geführt hat. Schon beim Einfädeln des Balls der Schützin ist klar, dass hier alles stimmt. Und damit auch Schluss mit den Analogien und weiter im Normal­text: wie sehr oft bei guten Filmen zeigt sich schon in den ersten Minuten, ob alles passt. Bei Soleen Yusef passt dann alles. Es ist die Sprache, es sind die Dialoge, es ist die kreative Kame­ra­ar­beit mit ihren unge­wöhn­li­chen Perspek­tiven und den intimen Annähe­rungen an die Alltags-Tableaus der Geschichte, die hier erzählt wird.

Es ist eine Inte­gra­ti­ons­ge­schichte der Super­la­tive, die von ihrer Heldin selbst erzählt wird. Der von Dileyla Agirman fantas­tisch verkör­perten Mona. Und schon wie diese Geschichte beginnt, ist einfach großartig. Denn es wird nicht einfach nur gezeigt, wie die elfjäh­rige Mona nach der Flucht mit ihrer sieben­köp­figen kurdi­schen Familie aus Syrien auf einer Grund­schule mit 90 Prozent Auslän­der­an­teil in Berlin-Wedding landet, sondern diese holprige Ankunft wird so über­ra­schend wie witzig über die Sprache zele­briert. Denn Monas innere Stimme spricht perfektes Deutsch, doch ihre äußere Stimme, die Stimme, mit der sie kommu­ni­ziert, erfüllt die Erwar­tungen ihrer Umwelt: eine weitere Schülerin mit migran­ti­schem Hinter­grund, die schlecht Deutsch spricht. Diese sprach­liche Dissonanz, die soviel über Identität und die kreativen Chancen von Iden­ti­täts­bil­dung erklärt, wird auch in der weiteren Handlung immer wieder spie­le­risch und als klas­si­scher brecht­scher V-Effekt in die Handlung geworfen. Bricht sie und forciert sie, ein Wunder.

Doch das ist natürlich nicht alles, denn fast schon nebenbei werden gleich mehrere Binnen­er­zäh­lungen etabliert: eine Liebes­ge­schichte, eine Lehrer­ge­schichte, eine Vergan­gen­heits­ge­schichte, eine Eltern­ge­schichte und die zentrale Fußball­ge­schichte, über die letzt­end­lich der Inte­gra­tions-Wumms abge­han­delt wird und auch: wie Berlin mit all seinen Sozio­topen aus Schul­fuß­ball­man­schafts­sicht aussieht, also eine Stadt­sport­rund­fahrt der ganz beson­deren Art.

Und wie toll sich gerade das Genre des Sport­films dafür eignet – in Deutsch­land leider sträflich vernach­läs­sigt – hat Sarah Winken­stette ja bereits in ihrem Jugend­drama Zu weit weg (2019) gezeigt, in dem es auch um alte und neue Heimaten und den Fußball ging.
Das mag sich nach viel anhören, wird aber ebenso wie die Sprach­ebene alles andere als vorher­sehbar und gleich­zeitig äußerst souverän mitein­ander verwoben. Dabei zeigt Soleen Yusef, dass sie nicht nur durch ihr hoch­ge­lobtes Debüt Haus ohne Dach (2016) Erfah­rungen gesammelt hat, sondern inzwi­schen auch über inter­na­tio­nale Seri­en­pro­duk­tionen als Regis­seurin tätig war, unter anderem für das Netflix Hip-Hop Drama Skylines wie auch für die Amazon Prime DDR-Spio­na­ge­serie Deutsch­land 89.

Gleich­zeitig wird jeder dieser erzäh­le­ri­schen Stränge über Dialoge und Alltags­se­quenzen fast schon hyperreal insze­niert, was wohl auch daran liegen mag, dass Yusef hier auch ihre eigene Geschichte erzählt, sie wie ihre Heldin Mona als junges Mädchen aus Kurdistan – wo sie tagein, tagaus mit ihren Brüdern Straßen-Fußball gespielt hatte – nach Deutsch­land kam und die 10. Wedding Grund­schule besuchte, bevor sie auf die Hector-Peterson-Ober­schule in Kreuzberg wechselte. Wohl deshalb wirken die Kurdistan-Flash­backs genauso über­zeu­gend wie die Schil­de­rung von Mobbing oder die Konkur­renz zwischen Jungen und Mädchen, die in den nur allzu bekannten Internats-Verfil­mungen der letzten Jahre wie z.B. Burg Schre­cken­stein 2 – Küssen (nicht) verboten völlig lächer­lich und stereotyp daher­kommen.

Und dann gelingt es Yusef am Ende, ihrem Film sogar noch eine poli­ti­sche Note beizu­mi­schen, als sie das Lehrer­zimmer und dessen Dynamiken für ein paar Momente ins Zentrum der Handlung hievt und fragt, wo Demo­kratie an der Schule aufhört und die Diktatur anfängt. Und auch das ist so schwer wie es leicht ist, so bitter wie süß, so ernst wie grotesk, was Sieger sein dann auch zu einem wunder­baren Fami­li­en­film macht, den Kinder unbedingt mit ihren Eltern sehen sollten und umgekehrt natürlich genauso.