Sing Sing

USA 2023 · 107 min. · FSK: ab 12
Regie: Greg Kwedar
Drehbuch: ,
Kamera: Pat Scola
Darsteller: Colman Domingo, Clarence Maclin, Sean San José, Paul Raci, David Giraudy u.a.
Sing Sing
Die Ensembleleistung ist es, die zählt...
(Foto: Weltkino)

Spiel dich frei

Greg Kwedar schafft mit seinem Knast-Kammerspiel ein beklemmendes und zugleich befreiendes Plädoyer für die transformierende Kraft der Kunst

Greg Kwedar hätte seine Geschichte natürlich voller Pathos und mit großen Gefühlen erzählen können, so wie Chris Kraus es in Vier Minuten getan hat, als er die persön­lich­keits­ver­än­dernde Kraft des klas­si­schen Klaviers auf seine junge Heldin und ihre Zeit im Gefängnis übertrug. Doch Kwedar geht diesen Weg zum Glück nicht, er geht auch nicht den eines verlo­ckenden Feelgood-Movies, der nicht nur wegen der teils wahren Hinter­grund­ge­schichte durchaus denkbar gewesen wäre: John »Divine G« Whitfield (Colman Domingo) sitzt wegen Mordes eine mindes­tens 25-jährige Gefäng­nis­strafe im Sing-Sing-Gefängnis ab und ist nicht nur einer der aktivsten Teil­nehmer des pädago­gi­schen Thea­ter­pro­jekts »Reha­bi­li­ta­tion Through the Arts«, das 1996 von Katherine Vockins in der Sing Sing Correc­tional Facility gegründet wurde, sondern vertieft sich auch immer mehr in die Straf­ge­setz­ge­bung, um nach Lösungen zu suchen, die eine vorzei­tige Entlas­sung von ihm und seinen Mitin­sassen bewirken könnten. Sein positives Gleich­ge­wicht gerät jedoch ins Wanken, als sich ein bis dahin eher zwie­lich­tiger Sträfling (Clarence »Divine Eye« Maclin) für das nächste Stück anmeldet und die bis dahin klar umris­senen Pattern des Projekts auf eigen­wil­lige Art hinter­fragt.

Kwedar nimmt sich für die Entwick­lung seiner Geschichte genügend Zeit und beein­druckt sehr schnell mit Knast-Details- und Abläufen auch des Projektes selbst. Paul Raci, der hier den »externen« Regisseur, Dreh­buch­autor und Thea­ter­the­ra­peuten Brent Buell spielt, brilliert etwa mit einer quirligen, authen­ti­schen Präsenz, die sicher­lich auch den Erfah­rungen des »echten« Brent Buell zu verdanken ist, der mit am Drehbuch schrieb und selbst in Sing Sing Stücke mit Sträf­lingen insze­nierte. Das Gleiche gilt für die wuchtig-empa­thi­sche Präsenz der Rolle von John »Divine G« Whit­fields, auf dessen Lebens­ge­schichte Regisseur und Dreh­buch­autor Kwedar durch eine Esquire-Reportage aus dem Jahr 2005 aufmerksam wurde.

So sehr sich der Film auf sein Kern­per­sonal konzen­triert, so sehr lässt er sich jedoch auch Zeit, um die Lebens­li­nien der anderen Insassen und Mitspieler zu erzählen und sich immer wieder auch auf den beklem­menden Alltag des Straf­voll­zugs einzu­lassen. Kwedar inte­griert an diesen Stellen sehr bewusst die langen, inten­siven Übungen für das neue Stück, lässt die Teil­nehmer vor den Proben in Sitz­runden von Hoff­nungen und Frus­tra­tionen erzählen und wechselt über Pat Scolas 16mm-Kamera-Kunst zwischen dem Blick in die Weite aus den vergit­terten Fenstern des Gefäng­nisses und den klaus­tro­pho­bi­schen Momenten in der Anstalt, den Zellen, dem Essbe­reich und dem einzigen größeren Raum, in dem geprobt wird.

Mit den Räumen wechseln auch die Erzäh­lungen, die Dialoge, die Sprache der Betei­ligten, die sich eigent­lich nur in dem Schutz­raum des Projektes neu entfalten können und diese Verän­de­rungen auch langsam in die anderen Räume ihres Alltags tragen. Kwedar schweift dabei immer wieder von der im Kern erzählten Geschichte der beiden Anta­go­nisten ab und vermeidet eigent­lich bis zum Schluss, dass hier auch nur in Ansätzen das übliche Bromance-Feeling entsteht, sondern statt­dessen eine über das Thea­ter­spielen getrig­gerte Katharsis, die beide Haupt­dar­steller zu anderen Menschen trans­for­miert. Kwedar scheut auch nicht die »thea­tra­li­schen« Details und bindet zum Teil »gnadenlos« die von Brent Buell geschrie­bene Komödie ein, eine bizarre Mischung Zeitrei­se­gim­mick mit Rück­be­sin­nungen auf die ägyp­ti­sche Mytho­logie, Robin Hood, Nightmare on Elm Street und Hamlet.
Damit bleibt Kwedar und die immer wieder sogartige Kamera von Pat Scola eigent­lich ohne Unter­bre­chung und so hautnah wie über­zeu­gend an jedem Einzelnen der Agie­renden und zeigt fast schon hyperreal wie Thea­ter­spielen den Blick auf den Alltag und damit ein Leben verändern kann. Aber auch, und das ist Kwedar hoch anzu­rechnen, dass in dem hier gezeigten reform­be­dürf­tigen ameri­ka­ni­schen Rechts­system und Gefäng­nis­alltag nicht jedes Leben gerettet werden kann.