USA 1997 · 90 min. · FSK: - Regie: Kirby Dick Drehbuch: Kirby Dick Kamera: Jonathan Dayton u.a. Schnitt: Kirby Dick, Dody Dorn |
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Bob Flanagan |
Am Anfang das Gesicht in Nahaufnahme, ein offener Mund. Vieles, allzu vieles nimmt der Mund zu sich, am Schluss wird ihm gar eine Sahnetorte hinein geschmiert, und auch das ist gar nicht komisch, verweist auf alles Mögliche mehr, als auf Slapstick. Es dauert eine Weile, bis man realisiert, dass dieser männliche Körper auf einer Art Totenbett liegt. Dann liest der Mann in höhnischem Ton einen Nachruf, und schnell ist klar, dass es ein Nachruf auf ihn selbst ist, vielleicht ein fiktiver, vielleicht ein voreilig von einem Journalisten verfasster, auf den »supermasochistic Bob«, dessen narbenübersähten Körper die Kamera dabei zeigt.
Mukoviszidose ist eine besonders grausige Erbkrankheit. Wer an ihr leidet, ertrinkt quasi über Jahre im eigenen Leib, dessen Lungen sich immer mehr mit Wasser füllen. Viele sterben jung, so auch zwei Schwestern des US-Dichters und Performance-Künstlers Bob Flanagan (1952-1996). Er selbst, ebenfalls schon als Kleinkind erkrankt, wurde immerhin 43, lebte Jahrzehnte zwischen Phasen der Erholung und dann wieder hustend, literweise grünen Schleim spuckend, an Sauerstoffgeräte angeschlossen und im Krankenhaus. Kirby Dicks Dokumentation Sick: The Life and Death of Bob Flanagan, Supermasochist begleitete Flanagans Leben und Leiden während der letzten Jahre bis zum bitteren Ende. Der Film wurde bereits 1997 fertiggestellt, lief damals erfolgreich im Panorama der Berlinale und auf diversen weiteren Festivals, wurde auch mehrfach ausgezeichnet. Dass er immerhin jetzt in die deutschen Kinos kommt, ist dem Engagement des neugegründeten Münchner Exit-Filmverleihs zu danken, der mit Sick seinen ersten Film herausbringt, sich aber in Zukunft auch um andere Schätze des Independent-Kino bemühen will.
Es gehört zu den großen Vorzügen dieses hervorragenden Films, nie wegzuschauen, auch wenn dies für die Zuschauer mit gewissen Zumutungen verbunden ist. Dabei bezieht sich der Titel Sick auf die Krankheit, nicht auf die masochistischen Neigungen Flanagans, die dieser in seine weltbekannten, vielfach preisgekrönten künstlerischen Arbeiten integrierte, und mit denen er Anfang der 90er unter anderem durch größere Ausstellungen im Santa Monica Museum of Art und New Yorker Museum of Contemporary Art auch einem breiten Publikum bekannt und in der Szene zur Kultfigur wurde. Zu seinen Werken gehört die Wall of Pain, in denen Flanagan seinen Masochismus in allen Varianten präsentiert. Selbst im Krankenhausbett ließ er sich an den Füssen aufhängen, und auch sonst stellt der Film Flanagans Performances freizügig dar, erspart dem Zuschauer wenig: Die Haut wird geritzt, geschnitten, gespickt, diverse Glieder und Körperteile werden durchbohrt oder an Bretter genagelt, mit Klammern gezwickt, mit Schlägen traktiert, stranguliert, der Körper als Ganzes wird gehängt und bein alldem ausgestellt, oder per Videomonitoren, in Einzelteile zerlegt im Raum verteilt. Das ist harte »Kost«, zum Teil ist es kaum vorstellbar, was genau ein Mensch da freiwillig mit sich machen lässt. Dabei lag – dies ist bei alldem zu berücksichtigen – solche offene Zurschaustellung des eigenen Körpers und seine Umdefinition zum künstlerischen Objekt im letzten Jahrzehnt durchaus im Trend der Kunstgeschichte.
Man lernt auch zwei Geistesverwandte kennen: Da ist Sheree Rose, Flanagans Partnerin in der Kunst wie in einem Leben, bei dem die Übergänge zwischen biederer Normalität und Extrem fließend waren. In so kühler wie unverstellter Offenheit erzählt sie von ihren eigenen sadistischen Neigungen, die sich mit Flanagan perfekt ergänzten, beschreibt sich als »very strict mother«, erzählt von Sex-Praktiken. Als Katalysator für all dies hatte offenbar nicht zuletzt das Kinos gewirkt: Oshimas
Im Reich der Sinne habe, so berichtet sie, bleibenden Eindruck hinterlassen, durch die Unbedingtheit, mit der er sich an Grenzen herantasten und sie schließlich überschreiten wollte.
Etwas anders liegen die Dinge bei der 17jährigen Sara. Das junge Mädchen leidet ebenfalls an Mukoviszidose, spricht realistisch und reif über ihr todgeweihtes Leben. Nach der Begegnung mit Flanagans Texten
will sie den Autor treffen, und entwickelt sich nach nur kurzer Begegnung zu einer Art Schülerin. Als sie der Film ein Jahr später wieder zeigt, geht sie mit Flanagan und Rose in ein Piercing-Studio. Durch Sara wird das schwer verständliche Beziehungsgeflecht von Körperhaß und Körperliebe, von freiwilligem und durch Krankheit auferlegtem Leiden noch einmal in neuer Weise gespiegelt, kann man ahnen, dass das eine zur Bewältigung des anderen beitragen könnte. Der Masochismus
Flanagans sucht die Ekstase und ringt mit Gott. Und einmal bemerkt Flanagans Mutter sehr weise über ihren Sohn, dass dieser »Gott beweisen wollte, dass er selbst seinem Körper noch viel mehr antun kann, als dieser.« Und man versteht plötzlich, was Jean Paul Sartre meinte, als er einmal schrieb, Masochismus sei »eine Form von Freiheit.«
Sick ist ein zutiefst humanes Dokument. Ein Film voller Respekt. Seine besondere Faszination erhält er durch die Art, wie die Persönlichkeit Flanagans einem in all den Bildern nahe kommt, und durch dessen Humor, sowie dadurch, dass man in der persönlichen Ironie und dem Sarkasmus, mit denen er über sich selbst erzählt, immer den existentiellen Ernst spürt. Hier spielt allenfalls ein Hauch von, immer reflektierter, exhibitionistischer Zurschaustellung mit – und der Film dürfte insofern auch alle Voyeure enttäuschen. Filmisch bleibt Sick auf gutem Niveau eine konventionelle Dokumentation. Stellenweise wirkt es etwas redundant, oder – wenn etwa das krankheitsbedingte Husten Flanagans sequenzartig hintereinander geschnitten ist – übertrieben rhetorisch. Doch immer wieder werden solche Eindrücke sofort durch die Einmaligkeit von Thema und Protagonist, durch die Kraft dieses Plädoyers fürs Leben aufgefangen.
»Masochisten sind nicht schwach.« heißt es einmal, »sie wissen, was sie mit sich machen lassen.« Und so begegnet man in diesem Film einem Menschen, den wir uns auch noch in seinem Sterben als glücklichen Masochisten vorstellen müssen. Auch in diesen letzten Stunden war die Kamera zum Teil anwesend. Und der Film mündet wieder zu der Einstellung des Anfangs: ein Totenbett. Flanagan singt: »Its fun to be dead.« Dann sieht man, zum ersten Mal wirklich im Film, auch Kinderbilder Flanagans. Unterlegt sind sie mit dessen berühmtem Sprechgedicht »Why?« Dessen finaler Satz ist die Selbsterklärung eines Masochisten: »Man tut immer dem weh, den man liebt.«