Türkei/Deutschland 2014 · 98 min. · FSK: ab 12 Regie: Kaan Müjdeci Drehbuch: Kaan Müjdeci Kamera: Armin Dierolf, Martin Solvang Darsteller: Dogan Izci, Çakir, Ozan Çelik, Muttalip Müjdeci, Ezgi Ergin u.a. |
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Beobachtung und nüchterner Realismus |
Kinderspiele in Schneelandschaft. Ein kleiner Junge, vielleicht zehn, elf, rauft etwas mehr als andere. Er heißt Aslan und ist in Ayse verliebt. Das Mädchen spielt bei der Schulinszenierung von »Schneewittchen und die sieben Zwerge« das Schneewittchen. Er möchte Prinz sein, wurde vom Lehrer aber nur als einer der sieben Zwerge bestimmt. »Der Lehrer hätte mich zum Prinzen machen müssen.« findet er.
Aslan lebt mit seinem viel älteren Bruder und seinem Vater auf einem Hof in einem kleinen armen ostanatolischen Dorf. Irgendwann kann das einzige Pferd der Bauern nicht mehr ausreichend arbeiten, da wird dieser Kostgänger ausgesetzt. Aslan muss es tun – das wird ein Katharsis-Erlebnis für den Jungen. Denn das Tier will sich nicht verjagen lassen, und Aslan ist nicht so hart und brutal es notfalls einfach zu töten.
Tiere sind eine Sache in dieser harten Welt, in der nicht viel Platz für Gefühl ist, und auch Aslan ist ein Kind dieser Verhältnisse. Er denkt nicht grundsätzlich anders, er guckt aber genauer hin. Darum sieht er, dass es zwischen Kindern und Frauen und Tieren die Unterschiede gar nicht so groß sind. Besonders die Frauen bleiben hier gesichtslose Nebenfiguren. Sie sind wie in der Gesellschaft auch die Kinder und die Tiere, Objekte und Opfer, die Herren des Lebens sind die
Männer.
Sie kämpfen immer oder lassen andere kämpfen. Ein sehr spezielles Vergnügen in dieser Welt der Männer sind die Hundekämpfe, blutige, höchst brutale Duelle auf Leben und Tod und um viel Geld.
Weil er genauer hinguckt, sieht Aslan auch, dass Sivas, ein bei Hundekämpfen besiegter, schwer verwundeter Hund, mehr wert ist, als er scheint. Er wählt Aslan zu seiner persönlichen Mission. Er kümmert sich um ihn, päppelt ihn auf. Und dann soll Sivas wieder kämpfen...
Regisseur Kaan Müjdeci taucht tief ein in die Welt der – auch in der Türkei illegalen- Hundekämpfe, über die er zuvor schon einen Dokumentarfilm gedreht hat. Müjdeci nimmt sich viel Zeit für die Exposition seiner »Coming of Age«-Geschichte und beobachtet erst einmal. Gewalt ist von Anfang an präsent. Zwischen den Kindern. In der Familie. Zwischen den Geschlechtern. Zwischen Mensch und Tier. Zwischen den Tieren.
Sivas ist ein Film der Beobachtung, des nüchternen Realismus – nicht der plumpen emotionalen Identifikation, wie sie Sozialpädagogen und Fernsehredakteure gern verlangen.
Die Inszenierung lebt von Atmosphärischem und kühler Beobachtungshaltung – das brachte dem Film einen Preis in Venedig und die Nominierung als türkischer Oscarbeitrag ein.
Wie wird ein Mann zum Mann? Das ist die tiefere Frage von Sivas. Müjdeci erzählt von der Männerwelt der türkischen Gesellschaft. Aslan wird im Laufe des Films zum »richtigen« Jungen. Und der Film wird zum einfühlsamen, auch traurigen Porträt einer traditionellen
Männergesellschaft.
So ist dies auch das symbolische Porträt der Türkei, eines Landes, das gerade unter der Knute eines harten Machopräsidenten, der Politik wie einen Hundekampf versteht, bei dem allein das Recht des Stärksten gilt, in die politische Steinzeit zurückfällt.
Der Film zeigt das Machtgefüge und die Initiationsriten dieser Welt. Und er zeigt, wie Kinder dazu gebracht werden, dass sie die Rituale der Erwachsenen übernehmen.
»Die Dinge sind nicht so, wie Du sie Dir vorstellst« – so lautet der letzte Satz des Films, den Aslan hört. Ein Abschied von der Kindheit.