USA 2022 · 100 min. · FSK: ab 16 Regie: Kyle Edward Ball Drehbuch: Kyle Edward Ball Kamera: Jamie McRae Darsteller: Lucas Paul, Dali Rose Tetreault, Jaime Hill, Ross Paul u.a. |
||
Der Horror im Kinderzimmer | ||
(Foto: Capelight) |
Etwas lauert in den Pixeln. Im Sturm aus Kratzern, Partikeln, wirbelnden Punkten verlieren sich die Augen und glauben, die gruseligsten Formationen zu entdecken. Die verrauschten, unruhigen und grobkörnigen Bilder von Skinamarink, aber auch seine seltsamen Laute sind ein Meisterstück der Suggestion. Permanent gebären sie Schreckgespenster aus den Tiefen der eigenen Einbildungskraft. Über Jahre hinweg hat der Kanadier Kyle Edward Ball eine unverkennbare Handschrift entwickelt. Sein YouTube-Kanal präsentierte verfilmte Albträume seiner Community: kurze, kryptische Fragmente, Splitter unheilvoller Räume, bedrohliche Nahaufnahmen und verschwommene Schemen, die mehr mit Projektionen spielen, als ihren geschilderten Horror explizit zu offenbaren. Balls Arbeiten kulminierten erst in dem Kurzfilm Heck und nun im Langfilmdebüt Skinamarink.
Wieder wird dort ein Albtraumszenario auf Film gebannt: Zwei Kinder wachen nachts auf. Die Eltern sind verschwunden, Fenster und Türen ebenso. Also sitzen sie fest in diesem Haus, wo schon bald eine seltsame Stimme aus dunklen Ecken zu ihnen spricht. Kyle Edward Ball landete mit dieser beschworenen Ur-Angst einen Sensations-Hit. Nach einem vorzeitigen Leak im Netz folgten ein viraler Social-Media-Hype und ein Kassenerfolg, der das Vielfache des geringen Budgets einspielte. Und weil deutsche Verleiher selten spontan genug sind, solche Hypes rechtzeitig aufzugreifen, kommt Skinamarink erst viele Monate später in die deutschen Kinos. Immerhin! Dieses widerspenstige, aber dennoch ganz intuitiv erfahrbare Experiment verdient auch hierzulande die große Leinwand und alle Aufmerksamkeit.
Das ist mit seinem langen Atem, seiner Vorliebe für das Unterschwellige kein leichtes Werk. Man sollte es dennoch unbedingt sehen und man kann auch dann seine immensen Qualitäten zu schätzen lernen, wenn es einen nicht rein affirmativ in Angst und Schrecken versetzt – vielen ratlosen Warnungen im Netz zum Trotz. Skinamarink ist eine Zäsur im Horror-Genre. Man wird wahrscheinlich in einigen Jahren nur wenige Sekunden daraus zeigen müssen, um ihn sofort wiedererkennen zu können.
Dabei arbeitet Kyle Edward Ball eigentlich mit einem der ältesten Horror-Motive überhaupt: dem Spukhaus. Geschichten von Gespenstern in den eigenen vier Wänden, mysteriösen Stimmen oder verschwindenden Gegenständen sind zeitlos und totgeritten. Was Ball jedoch unternimmt, ist eine Befreiung dieser Zutaten vom Plot-Denken, von eindeutiger Psychologisierung. Er weicht Erzählperspektiven auf, geht mal in das Ego, dann wird sein Film wieder gänzlich abstrakter audiovisueller Exzess. Ein Kino der Zauberkunst und Hypnose. Seine Figuren sind meist noch nicht einmal sichtbar. Stattdessen wandeln sie als Körperfragmente umher. Mal sieht man eine Hand, mal ein paar Beine. Nur flüchtig kann man ein Gesicht erhaschen. Selbst ihre Stimmen sind kaum zuzuordnen. Mitunter sprechen lediglich Untertitel auf der Leinwand. Die ganze häusliche Ordnung erscheint so in neuem Licht. Skinamarink erzählt nicht einfach vom Gespenstischen, sondern entwickelt eine selbstreflexive gespenstische Form. Ihren Terror speist sie aus der Abwesenheit. Dem, was außerhalb der Bilder oder tief in ihren finstersten Winkeln verborgen liegt. Es wird spürbar, hörbar, aber erst über das eigene Nachdenken greifbar.
Das Spukhaus ist unheimlich, weil wir uns in seinen Dimensionen verlieren, weil da nur noch Auszüge, Großaufnahmen von Wänden, Möbeln, Gängen aufschimmern, die in immer unübersichtlichere Teile zerlegt werden. Sie lassen uns das Vertraute in anderen Gestalten und Konturen sehen. Tag und Nacht verschwimmen. Unten und Oben werden verkehrt. Das Rauschen und Knacken im Hintergrund schwillt zum bedrohlichen Lärm an. Es schärft Sinne und Empfindsamkeit für die Aufnahmegeräusche der Apparate an sich sowie das flüsternde Gemurmel, das irgendwo im Haus ertönt. Die labyrinthischen Texturen des Films selbst sind jenes Spukhaus.
Kyle Edward Ball verknüpft somit eine Spukgeschichte mit Avantgarde-Ästhetiken des 20. Jahrhunderts. Seine Version eines analogen Horror-Kinos orientiert sich an Werken von Michael Snow, Chantal Akerman, David Lynch oder auch Stan Brakhage, die der Regisseur in einem Interview mit dem »Fangoria«-Magazin als Inspirationsquellen nannte. All das sind Filmschaffende, die ebenfalls unter anderem mit der Parzellierung, dem Entrücken von Räumen und Umgebungen spielen. Sie stellen die offengelegte Medialität in den Mittelpunkt, um sie teilweise in wild flackernde Sinnesreizungen und Strukturen zu übersetzen.
Ball hat Skinamarink nicht umsonst im Jahr 1995 verortet, also in einer Zeit, in der das Digitale schon die Fühler nach dem Privaten ausstreckt. Es verändert die Wahrnehmung der Welt. Obwohl seine bewusst antiquiert erscheinenden Bilder Konkretes vorenthalten: Spricht aus der monströsen Stimme im Haus nicht längst das Smart Home der Zukunft? Fortwährend bestimmt sie über Handeln, Schlafen, Wachen, wird zum Ersatz für die umherspukenden, toten (?) Eltern. Die künstliche Intelligenz ist über die Rezeption bereits als künftiges Gespenst anwesend, während man sich noch mit Cartoons im Röhrenfernseher zu trösten versucht. Sie spenden das letzte Licht im dunklen Heim, bilden die skurrile Klangkulisse für das lähmende Unbegreifbare.
TV, überhaupt das Mediale dient gleichermaßen als Weltflucht und Bezwinger des Raums. Oberflächenmuster der Mattscheibe verschmelzen mit jenen der gekörnten Filmbilder. Man darf das nicht unterschätzen: Kyle Edward Ball befriedigt keineswegs nur eine Lust an der Retro-Ästhetik. Er verschaltet sie in ihrer entrückten Gegenwärtigkeit, auf anachronistische Weise mit der zunehmenden Macht einer alten Technologie über das Zuhause, die längst dabei ist, von neuen abgelöst zu werden.
Die heimsuchende Entität manifestiert sich irgendwann in einer bedrohlichen Visage. Sie wird zur sinnbildlichen Autorität, welche noch über der der Eltern steht. Kyle Edward Ball fängt damit einen Moment der Kindheit ein, der plötzlich erfährt, dass die heimische Familienordnung noch von ganz anderen, jenseitigen Gewalten und Einflussnahmen durchdrungen ist. Städte aus Lego, Orte der Fantasie und Utopie, die die Kinder bauen, werden von Geisterhand davongetragen und zerstört. Puppen entziehen sich dem kindlichen Zugriff. Skinamarink gruselt nicht nur, er trauert.
Gedreht in dem Haus, in dem der Regisseur selbst aufwuchs, lässt Skinamarink die Räume der Erinnerung und Kindheit fremd und unheimlich werden. Seine inszenatorischen Strategien sind letztlich eng mit den Stimmungen von Walter Benjamins »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert« verwandt, wenngleich beiden ganz unterschiedliche Kontexte zu Grunde liegen. In Benjamins Textsammlung aus den 1930ern geht es ebenfalls darum, der Geborgenheit und den Abgründen der verlorenen Kindheitsräume nachzuspüren. Nostalgische Rückbesinnungen sind jederzeit im Sterben begriffen.
Auch das Gespenstische spielt dort eine Rolle, explizit in einer Geschichte über die beraubte Privatsphäre im Schlafzimmer. Skinamarink spiegelt sie im Gefängnis der vertrackten Zimmer und liminalen Übergangszonen, wo auf einmal die Regeln eines rätselhaften Anderen und der medialen Gewalt regieren. Die kindliche Wahrnehmung und ihre Furcht in der nächtlichen Bewegung erscheinen als vertrauter und dennoch ängstigend ferner Zustand. Lässt er sich überhaupt rekonstruieren? Was hat er erfahren, was sich heute nicht mehr, was sich heute vielleicht erst wahrhaftig erfahren lässt? Oder hängen wir gar ein Leben lang in diesem Zustand fest?
Die mal überzeichneten, mal pointiert verstummenden Geräusche und im Dunkeln tastenden Aufnahmen von Skinamarink sind so erschreckend, weil sie an eine verdrängte, universelle Orientierungslosigkeit und Einsamkeit erinnern:
»Im Übrigen entspricht dem, dass der Chock, mit dem ein Augenblick als schon gelebt uns ins Bewusstsein tritt, meist in Gestalt von einem Laut uns zustößt. Es ist ein Wort, ein Rauschen oder Pochen, dem die Gewalt verliehen ist, unvorbereitet uns in die kühle Gruft des Einst zu rufen, von deren Wölbung uns die Gegenwart nur als ein Echo scheint zurückzuhallen«, schreibt Benjamin in »Eine Todesnachricht«.
In einer prägnanten Szene ruft eines der Kinder Hilfe bei der Polizei. Man kann die Scham, die Verzweiflung, den Schmerz am eigenen Leib spüren. Kurz darauf erscheint das Telefon selbst als schauerliche Verzerrung: Der technologische Apparat und sein Spielzeug-Pendant offenbaren höhnisch klingelnd ihr bloßes Abbild voneinander. Es sind Dinge einer vorgegebenen Ordnung, der die Geschwister erliegen müssen, obwohl sie deren Regeln noch nicht verstehen können. Kein jüngerer Film hat die Ohnmacht und Manipulierbarkeit des Kindlichen, die Ehrfurcht vor der (materiellen) Welt so schaurig eingefangen! Skinamarink lädt dazu ein, sich dieser einschneidenden Erfahrung erneut zu stellen. Ihm gebührt das letzte Echo; Walter Benjamin über »Das Telephon«:
»Wenn ich dann, meiner Sinne kaum mehr mächtig, nach langem Tasten durch den finstern Schlauch, anlangte, um den Aufruhr abzustellen, die beiden Hörer, welche das Gewicht von Hanteln hatten, abriss und den Kopf dazwischen presste, war ich gnadenlos der Stimme ausgeliefert, die da sprach. Nichts war, was die unheimliche Gewalt, mit der sie auf mich eindrang, milderte. Ohnmächtig litt ich, wie sie die Besinnung auf Zeit und Pflicht und Vorsatz mir entwand, die eigene Überlegung nichtig machte, und wie das Medium der Stimme, die von drüben seiner sich bemächtigt, folgt, ergab ich mich dem ersten besten Vorschlag, der durch das Telephon an mich erging.«