Großbritannien 2008 · 120 min. · FSK: ab 12 Regie: Danny Boyle Drehbuch: Simon Beaufoy Kamera: Anthony Dod Mantle Darsteller: Dev Patel, Anil Kapoor, Saurabh Shukla, Rajendranath Zutshi, Freida Pinto u.a. |
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Gewinn für alle Seiten: Bollywood meets Hollywood |
Nie zuvor standen auch nur annähernd so viele Inder auf der Oscarbühne wie in diesem Jahr. Und da Bilder sich bekanntlich stärker in unser Gedächtnis einbrennen als jeder Zeitungsartikel, hat dies zum allgemeinen Eindruck geführt, der mehrfach Oscar prämierte Film Slumdog Millionär des Briten Danny Boyle sei ein indischer Film, ein »gefühlt« indischer Film in jedem Fall.
Und das obwohl die »Vom Chaiwallah zum Millionär«-Saga in Indien bereits vor dem Release hohe Wellen schlug und prominente Inder öffentlich Kritik übten. Allen voran die lebende Legende des Hindifilms, Amitabh Bachchan, der früher selbst einmal als Showmaster auf dem Stuhl der indischen Variante von »Wer wird Millionär« saß. Über seinen Blog argumentierte der Patriot Bachchan, der gleiche Film von einem Inder gemacht, hätte international niemals so viel Lorbeeren ernten
können.
Auch Slumdog Millionär kommt am mittlerweile ergrauten Urgestein des Bollywood-Kinos nicht vorbei. Im Film landet der Hubschrauber von Megastars Amitabh Bachchan am Rande des Slums und zieht sofort eine Menschentraube ehrfürchtiger Bewunderer an, die wirklich bis zum Äußersten gehen, um ihr Idol zu treffen – und wenn sie dafür in eine Kloake springen müssen.
Bachchans Superstarstatus ist ein durch und durch indisches Phänomen, wo man ihn
gottgleich verehrt und Fans ihm Portraits, gemalt in ihrem eigenen Blut, schicken – »Wir versuchen sie davon abzuhalten«, sagte er mir einmal in einem Interview, das sich anfühlte wie die Bollywood-Variante einer Papst-Audienz. »Bollywood«, ein Begriff, unter dem Filme aus Mumbai weltweit bekannt wurden, den Bachchan sich jedoch verbittet. Er und andere indische Filmschaffende sehen darin eine Herabwürdigung ihrer Industrie, so als sei diese nur ein billiger Abklatsch des
amerikanischen Originals. Journalisten, denen das böse B-Wort dennoch herausrutscht, werden höflich aber bestimmt vom Altstar auf ihren Fehler hingewiesen.
Bei so viel Erfolg in Indien hegt Bachchan, ganz im Gegensatz zu Anderen, keine großen Hollywoodambitionen. »Meistens landen wir in diesen Filmen doch nur Rollen als indischer Zeitungsverkäufer an der Ecke oder in irgendeiner Pizzeria. Das reizt keinen indischen Schauspieler«, winkt Bachchan dankend ab.
Die »Times of India« griff Bachchans Kritik auf und deklarierte Slumdog Millionär zur Armutspornografie, die wirkungsvoll indisches Leid an den Westen verhökere. Und auch der in Indien hauptsächlich für seine Slapstick-Komödien beliebte Regisseur Priyadarshan unkte medienwirksam, warum man denn neben dem ganzen Slum-Elend nicht auch Mumbais ästhetischere Seite habe zeigen können? Dabei klammert auch sein im Februar in einigen deutschen Kinos gestarteter
Film Billu Barber die Armut – hier des ländlichen Indiens – nicht ganz aus. Der mittellose Dorfbabier Billu, gespielt vom Slumdog-Polizisten Irrfan Khan, bittet in der schwarzhumorigen Einführung seiner Figur einen Regierungsbeamten um finanzielle Unterstützung, aber nur gesetzt den Fall, der Beamte sei nicht bestechlich, denn ein Bestechungsgeld
könne er sich nun wirklich nicht leisten.
Der Unterschied ist hier freilich, dass der Armut in Billu Barber eine würdevolle Einfachheit innewohnt, sie sauberer daherkommt, homöopathischer dosiert wird – und immer eindrucksvoll kontrastiert mit dem Gegenentwurf, der Welt des superreichen indischen Filmstars Sahir Khan (Shah Rukh Khan), dessen Filmcrew für die Dauer eines Shootings in Billus Landidylle ihr Lager aufschlägt.
Der an beiden Produktionen beteiligte Schauspieler Irrfan Khan kann die indische Kritik am Oscargewinner nicht nachvollziehen. »Menschen, die keine Ahnung von der Funktion des Kinos in der Gesellschaft haben, fangen an davon zu reden, dass der Film ein schlechtes Licht auf uns werfe. Das ist ein dummer Kommentar. Das spricht von Ignoranz. Ein Film ist keine diplomatische Mission. Film ist ein Medium, das eine Geschichte erzählt. Oder sollen die Leute in New York jetzt anfangen,
gegen Taxi Driver zu protestieren? Nach dem Motto: Warum zeigt Martin Scorcese nur die Bronx?«
Lobenswert hebt der Darsteller hervor, dass sein Regisseur Danny Boyle, anders als bisherige westliche Filmproduktionen, die in Indien drehten, Inder nicht nur als Schauspieler und Handlanger am Set einsetzte, sondern auch in kreativen Schlüsselpositionen auf indische Talente vertraute. Und auch
vor der großen Tradition des Hindi-Films verneigt sich der Oscargewinner. Bewusst habe Boyle Elemente des Hindi-Kinos übernommen.
Das beschränkt sich nicht auf das wohl auffälligste Merkmal eines klassischen Bollywoodfilms, die choreographierte Songszene zum Schluss.
Verloren und wieder gefunden...
Die drei Hauptfiguren, um die sich Danny Boyles Erzählung entspinnt, die Brüder Javed und Salim und die gleichaltrige Latika, werden vom Schicksal und Drehbuchautor mal hierhin, mal dorthin geworfen, mal getrennt und dann schicksalhaft wieder zusammen geführt. Dieses Motiv war so populär im Hindi-Film, speziell der 70er-Jahre, dass sich daraus ein ganz eigenes Genre ergab, »Lost & Found« genannt. In ihm soll sich, so analysieren
Filmforscher, das Trauma der Teilung Indiens und Pakistans spiegeln, als eine ganze Generation entwurzelt und Familien auseinander gerissen wurden. Das umwälzende historische Ereignis wird nur selten direkt auf der Leinwand zum Thema; die Gefühlswelt, die es umgibt, kommt jedoch im »Lost & Found«-Genre zum Ausdruck.
Schicksal
Der Glaube an eine Form der göttlichen Fügung liegt vielen Bollywoodfilmen zu Grunde, speziell den epischen Liebesdramen. Auch das reale Bollywood ist als notorisch abergläubisch bekannt. Die talentierte Schauspielerin Kareena Kapoor konnte zeitweilig kaum gute Rollen bekommen, da sie als »verhext« galt. Dabei verfällt die indische Filmindustrie jedoch nie in Fatalismus, sondern versucht im Gegenteil, dem Schicksal gekonnt ein Schnippchen zu schlagen. Dank
numerologischer Kniffe werden beherzt Buchstaben ganz entgegen den geltenden Gesetzen der Rechtschreibung variiert. Aus »Singh is King« wurde so »Singh is Kinng« und einer der größten indischen Hits des vergangenen Jahres.
Masala
Anders als im westlichen Kino mischt das indische mutig Drama, Komödie, Action, soziale Botschaft und Liebesgeschichte miteinander zu einer für westliche Cineasten manchmal nur schwer verdaulichen Melange. Das Ergebnis nennt sich angelehnt an die Gewürzmischung »Masala« und soll alle Geschmäcker des Publikums ansprechen. Ein Gebot, dem auch Slumdog Millionär wirkungsvoll folgt.
Gangster
Entgegen des sich hartnäckig haltenden Klischees, das Hindi-Kino setze in erster Linie auf Liebesfilme (das war mal so) und romantische Alpenkulisse (meist nur noch in B-Movies), gehören indische Gangster schon lange zu den Archetypen des Hindifilms. Hinter vorgehaltener Hand raunt man sich zu, dies läge nicht zuletzt auch daran, dass die indische Mafia, die »Bollywood«-Mafia, hinter den Kulissen die Fäden in der Hand halte. Bevor in den 90er Jahren das
Filmgeschäft in Indien als Industrie anerkannt wurde, gab es keine Bankkredite für Filmproduktionen, die folglich aus anderen Quellen schöpfen mussten. Manche der Mafiosi beschränkten sich angeblich nicht nur auf die Rolle des Geldgebers, sondern nahmen auch Einfluss auf die Drehbücher. Düstere Gangsterdramen, vor allem aus der Feder von Ram Gopal Varma, feierten in Indien Erfolge, und das obwohl der Regisseur häufig auf die beliebten Songeinlagen verzichtet.
Mag sein, dass Slumdog Millionär eine neue Tür hin zum Hindi-Kino aufgestoßen hat, welches bisher hinter Bollywood-Klischees, Shah Rukh Khan und RTL2 dem Gros der Zuschauer verschlossen geblieben war.
Vielleicht ist es auch ein Anhaltspunkt dafür, dass sich die Trennlinien immer weiter verwischen und unsere Sehgewohnheiten sich schließlich genauso globalisieren, wie die indischen Stars es heute schon vormachen. Ein Schauspieler wie Irrfan Khan springt
jetzt schon zwischen Hollywood (The Namesake, A Mighty Heart) und Bollywood mühelos hin und her, ebenso wie Bollywoods größter weiblicher Star Aishwarya Rai-Bachchan, die gerade noch mit ihrem Hollywoodfilm Der Rosarote Panther 2 auf der Berlinale zu Gast war. Die Schwiegertochter von Amitabh Bachchan resümierte dort, man sei mehr und mehr mit einem »globalen Publikum« konfrontiert. »Wir haben Fernseher und können
uns durch Hunderte von Kanälen zappen. Dadurch haben wir die Möglichkeit, ganz fremde Kulturen zu entdecken.«
Auch der zweifache Oscarpreisträger, Komponist A.R.Rahman, wird es Irrfan Khan und Aishwarya Rai-Bachchan bald gleichtun, denn erste Angebote aus Hollywood liegen Indiens Musikgenie schon vor. Derzeit arbeitet er aber noch an einem Song für Blue, in dem die Australierin Kylie Minogue ihr Bollywood-Debüt geben wird.
Ein Team um den indischen Regisseur Anurag Kashyap, dem Enfant terrible des indischen Films, besuchte Regisseur Danny Boyle in England, um sich,
beeindruckt von Slumdog Millionärs visuellem Stil, Kamera-Tipps zu holen für ihre moderne Neu-Interpretation des klassischen Devdas-Stoffes: Dev D. Indiens ureigener tragischer Held trägt nach zahlreichen Bollywood-Reinkarnationen inzwischen Jeans und verfällt den (westlichen) Designerdrogen.
Und zur Jahresmitte verspricht uns Irrfan Khan ein weiteres Crossover-Projekt. In Hissss kommen indische
Darsteller unter einer amerikanischen Regisseurin (Jennifer Lynch) zusammen, um eine indische Geschichte zu erzählen. Von einer grusligen »Nagin« wird sie handeln, einem halbmenschlichen Schlangenwesen, das nach eigenem Gutdünken die Gestalt wechseln kann. Indiens Antwort auf Werwölfe und Vampirfledermäuse soll dabei in Fusion mit dem amerikanischen Creature-Film zum Horrorstreifen mit internationalen Ambitionen werden.
Im internationalen Film wächst so zusammen, was
eigentlich gar nicht zusammen gehört, dem Publikum aber neue, abenteuerliche und exotische Sehgenüsse verspricht. Willkommen im globalen Kino. Mit Filmen irgendwo zwischen evolutionärer Zelluloid-Neugeburt, Frankensteinschem Monster und sympathischer Promenadenmischung.
Weitere Filmempfehlungen (auf Deutsch erschienen):
Indische Gangster:
Sarkar
Ram Gopal Varmas düstere Hommage an Der Pate mit Amitabh Bachchan als Machtmensch mit Familiensinn im Zentrum.
Company
Die Mafia als Unternehmen in einer globalisierten Welt. Die Geschichte um ehemals befreundete Gangster, die zu Feinden werden, basiert zum Teil auf realen Figuren aus der indischen Unterwelt.
Maqbool
Shakespeares »Macbeth«, verpflanzt ins indische Gangstermilieu. Sehenswerter Film mit Irrfan Khan in der Hauptrolle des ehrgeizigen Maqbool.
Amitabh Bachchan:
Sholay (erscheint am 27.3.)
Indiens »Curry-Western« aus den 70ern verbindet in bester Masala-Manier Action, Drama, Liebe, Humor und Songs zu einem absoluten Kultfilm.
A.R.Rahman:
Lagaan – Es war einmal in Indien (für dieses Jahr ist eine Neuauflage angekündigt)
Für den Oscar nominiertern Film im Historiengewand, in dem unterdrückte indische Bauern zu den Kricketschlägern greifen und in einem schicksalhaften Spiel gegen ihre englischen Kolonialherren antreten.
Dil Se – Von ganzem Herzen
Ein Mann (Shah Rukh Khan) verliebt sich in eine geheimnisvolle Fremde, die sich als Selbstmordattentäterin entpuppt. Der Soundtrack gehört zu Rahmans besten und speziell der Song »Chaiyya Chaiyya« ist auch im Westen schon fleißig zitiert worden (etwa in The Inside Man).
Wenn man auf die Essenz des Kinos kommt, alle Plots und Charaktere, alle Stars und Themen beiseite lässt, weil man zum puren Kern des Mediums vorstoßen will, was bleibt dann? Bewegung in der Zeit. Und Bewegung im Raum. Das Dreidimensional-werden des zweidimensionalen Leinwandraumes. Heute auch durch den Ton, der längst »surround« zu hören ist, vor allem aber seit jeher durch die Imagination des Betrachters im Kinosaal.
Genau dieses seltene Entfesseln der Vorstellungskraft zu erreichen, ist das Geheimnis von Slumdog Millionaire. Eine gutgelaunte, fröhliche, nie unter Niveau präsentierte Geschichte, voller Energie und Leidenschaft, mitreißend inszeniert, dynamisch und clever erzählt, Optimismus und Lebensfreude ausstrahlend – kaum ein Zuschauer wird sich dem Zauber dieses Films völlig entziehen können. Ein Film zudem, der ganz visuell daherkommt, mit einer Kamera – vom britischen »Dogma«-Kameramann Anthony Dod Mantle –, die rastlos, wild expressionistisch, und ständig in Bewegung bleibt – mal in Zeitlupe, als wär’s ein Wong Kar-wai-Melo, manchmal rasant und kinetisch wie in einem asiatischen Gangsterfilm.
Frage 1: Wie nennt man die Hauptstadt des 21. Jahrhunderts?
A: Shanghai;
B: Metropolis;
C: Mumbai;
D: Bombay
Antwort: D. Bombay! Bombay, nicht Mumbai. Mumbai sagen nur Hindu-Fundamentalisten und Leute, die keine Ahnung haben. In dieser Stadt gibt es keine Vergangenheit, nur Gegenwart und Zukunft.
Ein Film, der lauter Bilder aneinanderreiht, die sich einbrennen ins Hirn: Kinder spielen Cricket auf einem Flugfeld... Ein Junge springt in die Sickergrube einer öffentlichen Toilette, weil er sich nur so befreien kann. Über und über mit Exkrementen bedeckt, kommt er dann auf einen öffentlichen Platz, wo sich die Menschen um einen Bollywood-Star scharen... Eine Gruppe von Menschen jagt eine andere Gruppe. »The're muslims, get them!« hört man, es folgt brutalste Prügel, Feuer. Ein Pogrom. Und die Polizei guckt weg... Das war 1993. Die Täter: Hindu-Fundamentalisten. ... Drei Kinder im Regen. Es ist der Endlos-Regen des Monsun. Sie sind alleingelassen. Und landen auf einer Müllkippe... Slummädchen, die zur Prostitution gezwungen werden... Straßenkinder, die man erblindet, weil sie dann mit ihrem Gesang mehr Geld erbetteln können... Ein Quizstudio, ein korrupter Showmaster... Folternde Polizei... Betrügerische Brüder... Zwei Jungen, die auf einem Zug durchs Land fahren... Der Bahnhof vom Bombay...
Der Film zeigt Realität. Es ist kein schmeichelndes, schönfärberisches Portrait Indiens, sondern das Bild eines Landes, in dem glänzende Modernität mit archaischer Brutalität einhergeht. Heute wird SLumdog Millionaire in ganz Indien gefeiert, als handle es sich um einen rein indischen Film. Zunächst aber wurde er verteufelt. Von den Nationalisten, den Hindu-Fundamentalisten, von jenen, die ihre eigenen Landleute, indische Schriftsteller und Journalisten, mit dem Tode bedrohen, wenn sie auf Englisch schreiben, wenn sie »Bombay« statt »Mumbai« sagen. Von den anderen, den weltoffenen, prowestlichen Kräften, wird der Film bejubelt. Denn er zwingt ganz Indien, hinzusehen, zwingt eine Gesellschaft, sich auch ihren Schattenseiten zu stellen. Denn Slumdog Millionaire mag Gute-Laune-Kino sein, aber es geht weit über den harmonietriefenden glatten Bollywood-Durchschnitt hinaus. Boyle zeigt die Patchworktotale der Slums von Bombay, zeigt den Müll, die Stadt und den Tod, zeigt die Angst, den Dreck und die Not, zeigt Prostitution, Korruption und Elend.
Ein indischer Film, also: Fruchtbare Multikulti-Pluralität
Frage 2: »Das Nationalwappen Indien zeigt drei Löwen. Was steht darunter geschrieben?«
A: The Truth Alone Triumphs;
B: Lies alone Triumphs;
C: Fashion alone Triumphs;
D: Money alone Triumphs;
Antwort: A. The Truth Alone Triumphs
Acht Oscars können lügen. Die Academy-Awards sind kein Argument für diesen Film, allerdings auch keines gegen ihn. Interessant ist die Preisvergabe dieses Jahres allerdings schon gewesen. Und zwar durch die Eindeutigkeit, mit der Slumdog Millionaire sich durchsetzte, acht Oscars gewann, und so nebenbei in nahezu allen wichtigen Kategorien den Riesen-Apparat und PR-Etat des zehn Mal so teuren Der seltsame Fall des Benjamin Button aus dem Rennen warf. Denn trotz beteiligtem Hollywood-Geld ist dies ganz und gar ein Außenseiterfilm. Mehrfach von den Studios abgelehnt und von Benjamin Button-Produzent »Warner Bros.« weiterverkauft, dann schließlich mit vergleichsweise geringen Mitteln produziert – wie schon in den letzten Jahren triumphierte damit beim Oscar ein Independent-Film über Riesenblockbuster, die trotz Rekordeinnahmen an der Kinokasse nur technische Preise noch gewinnen.
Slumdog Millionaire ist in seiner ästhetischen Identität wie von seiner Handschrift her ganz und gar kein originärer US-Film, sondern etwas Neues: Er mischt gleichberechtigt (britisch-)europäische, indische, und US-amerikanische Elemente. Handlung und Figuren sind ganz und gar indisch, die Vorlage auch. Ein Beispiel also für fruchtbare Multikulti-Pluralität, dafür, das globalisiertes Kino keineswegs herzlos sein muss. Im Gegenteil ist Slumdog Millionaire energetisch und leidenschaftlich, ein Film, der nun zum Jungbrunnen für ein erschöpftes Hollywood werden könnte, dem außer Fortsetzungen und Remakes bewährter Erfolgsformeln derzeit wenig einfällt. Die diesjährigen Oscars belegen unverkennbar: Der Blick der USA geht nach Europa und nach Asien.
In Asien hat man das verstanden. Treffend kommentiert die »Times of India« und reagiert damit auch auf einheimische Nationalisten und Feinde des Westens: »Gemacht haben den Film Hindus, Muslims, Christien, Malayer, Punjabis, Tamilen, Leute aus Goa, britisch-indische Mischlinge, indophile Briten, Reiche, Arme ... Kritiker werden weiterhin schimpfen, der Film sei nicht 'wahrhaft' indisch, und die Westler, die ihn gemacht haben, hätten schlicht und einfach den düsteren Unterleib der indischen Armut ausgebeutet. Aber vor der Geschichte zählt nur die Substanz: Ein Film, der durch eine indische Geschichte inspiriert ist, der indische Darsteller und ein überwiegend indisches Team hatte, gewinnt acht Oscars. ... Der Held des Abends war A R Rahman, der heimliche Gott der Musik. Als er mit gleich zwei Oscars nach Hause ging, konnte die Welt sehen, warum er der Inbegriff einer unvergleichlichen Pluralität ist. In einem scharfen Kommentar, der höchstwahrscheinlich auf diejenigen zielte, die Indien einst auseinanderrissen und versuchen heute das Gleiche zu tun, sagte Rahman, der sowohl religiöse wie regionale Grenzen überschreitet, 'Ich hatte in meinem Leben immer die Wahl zwischen Liebe und Hass. Ich wählte die Liebe und ich bin hier.'«
Dieser Satz Rahmans ist nicht einfach ein glatter Showbiz-Kommentar, es ist ein eminent politisches Statement in einem Land, indem alle Unterhaltung politisiert ist. Dies ist ein toller Film über Indien, ein Hohelied auf Bombay und die Mythologie dieser Stadt. Aber er ist noch mehr: Formal erzählt Slumdog Millionaire das Erfolgsmärchen eines Jungen aus dem indischen Slum, tatsächlich handelt es von der wachsenden Bedeutung Indiens.
Frage 3: Aus welchem Film stammt der folgende Satz: »I don’t cheat clients. Virgin they want, virgin they get.«
A: Der Tiger von Eschnapur;
B: Salaam Bombay!;
C: Monsoon Wedding;
D: Slumdog Millionaire;
Antwort B: »Salaam Bombay!«, Mira Nairs Film über Straßenkinder in Bombay ist die offenkundige Referenz für diesen Film, zugleich das Werk, von dem er sich am Deutlichsten absetzt. Gegen dessen Neorealismus setzt Boyle Pop.
Ein Mann hängt in einem Polizeirevier von der Decke. Polizisten foltern ihn: So wird Jamal Malik, ein Muslim aus Bombays Slum, der Held dieses Films eingeführt. Und es bleibt eine Geschichte aus den Slums. Von Menschen, die in Hütten aus Wellblech und Abfall wohnen, deren Dächer mit Plastiktüten vom Supermarkt geflickt werden, deren Abwasserleitung ein schmutziges Rinnsal ist, das zwischen den Gassen fließt, von Frauen die nachts arbeiten, von Vätern, die drogensüchtig sind, von Kindern, die Müll sammeln oder auf den Strich gehen. Aus dem Elend, das wir allzu gern verdrängen, von dem wir wegzappen in die künstlichen Paradiese unserer seichten, verlogenen Fernsehunterhaltungsshows. Solcher Shows wie »Wer wird Millionär?«
Die gibt es weltweit, natürlich auch in Indien. Dort heißt sie »Kaun Banega Crorepati«. 20 Millionen Rupien ist da der Hauptpreis. Umgerechnet 313.000 Euro. Und eines Tages gewinnt diesen Jackpot der, von dem alle das, vor allem hier, am wenigsten erwarten würden, und dem alles es, vor allem in Indien, am meisten gönnen: Jamal (Dev Patel), ein bettelarmer ungebildeter, 18-jähriger Junge aus den Slums der »Maximum City« Bombay, der jetzt als Teebursche (»chai wallah«) in einem Call-Center arbeitet. Daran, dass sein Wunschtraum wirklich wird, kann ihn auch seine Herkunft nicht hindern. Nicht die Polizei. Nicht der Showmaster, ein betrügerischer Aufsteiger, zum Verwechseln ähnlich dem Schauspieler und Bollywood-Superstar Amitabh Bachchan sehend, der die Sendung jahrelang moderierte – und dessen Name hier die Antwort auf die erste Quizfrage ist.
Slumdog Millionaire, der neueste Film des Briten Danny Boyle, geschrieben nach dem Roman des indischen Ex-Diplomaten Vikas Swarup (der im Original »Q & A« heißt, auf deutsch als »Rupien! Rupien!« bei Kiepenheuer & Witsch erschienen), macht nichts weiter, als zu erzählen, wie es dazu kam. Er hat dafür einen wunderbaren Rahmen gefunden, ein Polizeiverhör, das das »Q & A« auf der Showbühne spiegelt und verdoppelt, interpretiert und enthüllt.
Denn woher soll einer, der kaum schreiben und lesen kann, schon die Antworten auf komplizierte Fragen aus Literatur, Musik, Politik wissen? Also verhaftet ihn die Polizei nach dem Erreichen der letzten Frage, und unterzieht ihn einer zweiten peinlichen Befragung, verhört ihn mit Hilfe von Elektroshocks, in der Gewißheit, einem großangelegten Betrug auf der Spur zu sein. Doch Jamal kann Frage für Frage erklären, wie er die Antworten im tagtäglichen Existenzkampf gelernt hat. Und anhand dieser Fragen erzählt Slumdog Millionaire Jamals Lebensgeschichte. Das ganze Leben ist ein Quiz, und die Rückblicke bündeln sich am Ende zum Showdown der Fernsehsendung. Ein großes Drama, das auch in sich ähnlich funktioniert, wie die Millionärs-Show im Fernsehen, die man auch nicht ernst nehmen kann, und dann doch gebannt vor ihr hängen bleibt.
Zugleich touristisch begeistert und ernsthaft interessiert in seinem Blick taucht der Film tief in die Wirklichkeit Indiens ein, in Korruption und Elend, Rassismus und Ausbeutung. Über die Länge eines Spielfilms gelingt so ein durchaus differenziertes Portrait des Subkontinents. Trotzdem bleibt Slumdog Millionaire immer unterhaltsam, ein fiebriger <a href=»http://en.wikipedia.org/wiki/Masala_(film_genre)«>Masala-Film</a>, der allen Glanz und alle Tugenden indischen Kinos bündelt. In dieser Verbindung von Sozialrealismus und Entertainment liegt das Geheimnis dieses überraschenden Welterfolgs – und hierin ist der Film am klassischsten, erinnert an das engagierte Kino von Capra oder die Komödien von Preston Sturges aus den 30er und 40er Jahren.
Regie führte Danny Boyle (Trainspotting, A Life Less Ordinary, 28 Days Later). Boyle erzählt, mit Tempo, Rhythmus, und viel Charme. Boyle verbindet seinen gewohnten clipartigen Stil, in dem jede Zehntelsekunde vollgestopft ist mit visuellen und Ton-Informationen, mit der Extravaganz des Spektakelkinos von Bollywood – und ist so selbst das beste Beispiel für die Neugeburt des europäischen Kinos aus dem Geist Asiens.
Der Film ist ein toll inszeniertes großes Drama, verbindet die Bildsprachen von West und Ost, Bollywood trifft Hollywood. Aber auch Rossellini und manch' indischer Meister wird hier anzitiert. Man findet auch zahlreiche Anspielungen an Klassiker der Literatur – vor allem an Dickens, den Poeten des Lumpenproletariats im Europa des 19.Jahrhundets. Jamal ist ein Oliver Twist unserer Zeit, ein gewitzter Junge aus dem Slum, der das Glück des Gerechten hat.
Wie Dickens' Romane ist Slumdog Millionaire ein Märchen, aber ebenfalls wie bei Dickens eines voller Realitätsbezüge. Er taugt auch als kulturübergreifende Gesellschaftssatire. Vor allem aber ist dies nun die Vorlage zu einem wunderbaren Film, Danny Boyles bestem seit Trainspotting, jenem verfilmten Brit-Pop über Thatchers Kinder. Einem Film, der seine optimistische Märchenbotschaft mit einem pessimistischen Befund verbindet. Denn Boyle ist, darüber kann man nicht zweifeln, Pessimist. Er konstatiert das Kolonialismus, die nicht-europäische Zukunft Asiens, ihre andere Moderne mit derselben Nüchternheit, mit der sich ein Graham Greene zeitlebens auf letzte Reisen durch die Kolonien begeben hat; seine Bilder erinnern bei allem Pop-Appeal hin und wieder an den bitteren Dokumentarismus, mit dem der Chinese Jia Zhang-ke und sein Kameramann Yu Lik-wai, eine Art Danny Boyle Asiens, die Mondlandschaften des neuen China festhalten, die Städte zum letzten Mal filmen, die bald vom Dreischluchtenstaudamm verschlungen sein werden (z.B. Still Life).
»Who Wants to Be a Millionaire?« so heißt die Show, im Kino wie im Leben; und wer würde diese Frage nicht bejahen, selbst wenn es diesmal nur um Rupien geht, um 20 Millionen, umgerechnet also unter 400.000 Euro. Wie jedes gute Märchen, wie jedes Leben, ist Slumdog Millionaire eine Verlustgeschichte. Fortschritt gibt es allenfalls für ein Land und die Menschheit, nie für den Einzelnen. Ein Film, dem man ungemein viele Zuschauer wünscht – damit so etwas im Kino nicht die Ausnahme bleibt. Slumdog Millionaire mag bis zum gewissen Grad ein Fake sein, aber es ist ein schöner Fake. Ein Fake, der funktioniert. Denn er bringt alles, was Kino bringen muss. Große Oper und großes Melodram.