Frankreich 2018 · 132 min. · FSK: ab 16 Regie: Christophe Honoré Drehbuch: Christophe Honoré Kamera: Rémy Chevrin Darsteller: Vincent Lacoste, Pierre Deladonchamps, Jacques Tondelli, Adèle Wismes, Thomas Gonzalez u.a. |
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Wie lebt man das Leben vor dem Tod? |
Eine Zeitreise. Dieser Film spielt in den späten Achtziger- und frühen Neunziger-Jahren und lebt von der Textur dieser Epoche, ihrer Musik, ihrer Mode, ihren Filmen und Theaterstücken, er lebt von unserer kaum verdeckten Sehnsucht nach dem analogen Zeitalter, als das Leben vermeintlich einfacher war und klarer. Oder auch nicht.
Sorry Angel heißt im französischen Original Plaire, aimer et courir vite; also: »Gefallen, lieben und schnell laufen.« Das schnelle Laufen verweist darauf, dass hier die Zeit knapp ist, denn die Epoche um 1990 war auch die Zeit des großen Sterbens durch die Immunschwäche AIDS. Die HIV-Infektion wirft einen langen Schatten auf das Leben der Menschen und auf diesen Film.
Und wenn Regisseur Christophe
Honoré in seinem neuen Film vom schnellen Leben Anfang der 1990er erzählt, dann geht es eben um beides: Um Aufbruch und um das Weglaufen, um ein Lebensgefühl, das von der ständigen Präsenz des Todes gezeichnet ist und um – erst recht! – die Feier des Lebens davor.
Die Musik ist von Anfang an eine der großen Stärken des Films.
Ein Reigen mehrerer Figuren. Die schwule Liebesgeschichte in ihrem Zentrum ist insofern autobiographisch gefärbt, als der – offen homosexuelle Regisseur Honoré – wie die von Vincent Lacoste gespielte Hauptfigur Arthur aus der Bretagne stammt, in Rennes studierte, und in seinen frühen 20ern Anfang der 90er Jahre als angehender Filmemacher nach Paris ging. Und dass er hautnahe miterlebte, wie viele seiner Freunde an AIDS starben.
Dieses eigene Studentenleben zwischen Aufbruch und Weltentdeckung einerseits, Angst und Depression andererseits verbindet Honoré mit der vollkommen fiktiven Geschichte des Schriftstellers Jacques, der in Paris lebt, wo er sich das Sorgerecht für seinen Sohn mit dessen leiblicher Mutter teilt.
Inzwischen lebt er offen schwul und ist HIV-positiv. Zärtlich kümmert er sich um seinen Sohn, rührend begleitet er einen anderen Freund in den Tod – die eigene Krankheit aber verdrängt er.
Doch nun hat er sich frisch verliebt, in Arthur, den er in einem Kino kennengelernt hat, in einer Vorstellung von Jane Campions Das Piano...
Sorry Angel ist voll von derartigen kleinen, intelligenten, oft auch ziemlich witzigen Verweisen auf Zeitgeist und Popkultur jener Jahre.
Die aufkeimende Liebe zwischen Jacques und Arthur hat bei aller Melancholie, die sie durchzieht, auch den großen Reiz des Gegensätzlichen: Jacques fühlt sich weiser, lebenserfahrener; Arthur ist der Meinung, dass im Leben nichts unmöglich ist.
Sorry Angel ist auch eine schmerzhaft berührende Hommage an die Toten der 1980er – man sieht die Gräber von Bernard-Marie Koltès, François Truffaut, Jacques Demy, Serge Daney und anderen Größen der europäischen Kultur. Der Film lebt besonders von ausgezeichneten Darstellerleistungen.
Flüchtigkeit, Beiläufigkeit, das Flanieren und Driften sind Wesenszüge des Kinos von Christophe Honoré. Er ist einer der talentiertesten Filmemacher Frankreichs und kann ungemein viel. Aber das, was er kann, zeigt Honoré nicht immer genug. Mit Sorry Angel, der im Wettbewerb von Cannes Premiere hatte, ist ihm einer seiner besten Filme geglückt.
Auch hier sind die Figuren permanent in Bewegung: Sie gehen spazieren, fahren, wohnen in Hotels,
schwimmen, gehen ins Kino, tanzen, lieben – Kino als Inszenierung des modernen Lebens.
Offen und zwischen verschiedenen Handlungs-Ebenen mäandernd erzählt, vielleicht zu lang, mit manchmal zu aufdringlich und plakativ eingesetzten Referenzen – wie etwa einem Filmposter zu Fassbinders Querelle im Wohnzimmer, Verweisen auf Rimbaud und Whitman –, ist dies vor allem eine berührende und mehrdimensionale Geschichte über Freundschaften, über Facetten der Liebe und der Lebensformen, über das Leben selbst.
Honorés Blick auf das Leben – mit und ohne AIDS – ist vollkommen unsentimental, aber er ist melancholisch. So wird der Schmerz über die verlorene Zeit und über ihre Verluste immer spürbar.
Im Zentrum aber steht diese Welt – wie lebt man das Leben vor dem Tod?