Deutschland 2023 · 100 min. Regie: Jörg Herrmann Drehbuch: Jörg Herrmann Kamera: Eddy Zimmermann, Jean-Pierre Meyer-Gehrke, Lukas Seiler Schnitt: Richard Jacobi, Jörg Herrmann |
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Weder positive noch negative Klischees... | ||
(Foto: déjà-vu film) |
Helga Schubert verlor ihren Vater im Zweiten Weltkrieg, hatte eine gefühlskalte Mutter, gebar selbst viel zu früh einen Sohn und heiratete einen notorisch untreuen Mann. Da sie nicht linientreu war, litt sie in der DDR unter den üblichen Bespitzelungen und Gängelungen. Trotz einiger Achtungserfolge als Schriftstellerin führten die Repressalien dazu, dass Helga Schubert zwanzig Jahre lang nicht veröffentlichen durfte und nicht mehr schrieb.
Für viele Menschen würde schon die Hälfte dieses Unglücks reichen, um traumatisiert zu sein, sich als Opfer zu fühlen, Schuldige zu suchen, also ein fremdbestimmtes oder entbehrungsreiches Leben zu führen.
Doch Helga Schubert studierte Psychologie und praktizierte als Therapeutin. Sie ließ sich scheiden und heiratete den Professor Johannes Helm. Während der friedlichen Revolution wurde sie Pressesprecherin des „Zentralen Runden Tisches“ in Ost-Berlin.
Als Helga Schubert wieder anfing zu schreiben, wurde sie zum Ingeborg Bachmann Wettbewerb eingeladen. Den sie im Alter von 80 Jahren gewann. Drei Bücher, die sie seitdem veröffentlicht hat, wurden Bestseller. Die
Fallgeschichten „Judasfrauen“, noch in der DDR gegen heftige Widerstände recherchiert und veröffentlicht, wurden im vereinigten Deutschland neu aufgelegt und haben endlich die Anerkennung bekommen, die sie verdienen.
Solche überraschenden Wendungen und Triumphe, die Helga Schubert sich geduldig erarbeitet hat, böten Stoff für Erfolgs-, Emanzipations- Widerstands-, ja sogar für Heldinnengeschichten – inklusive der bekannten Stereotypen: Halbweise, Nachkriegskind, alleinerziehende Mutter, Stehauf-Fräulein, Regime-Kritikerin, Phönix aus der Asche, DDR-Schriftstellerin, Ausnahmekünstlerin, usw., usf.
Das Großartige an Helga Schubert ist, dass sie weder positive noch negative Klischees erfüllt. Sie passt in keine Schublade. Sehr wahrscheinlich, da sie ihrem inneren Kompass gefolgt ist, der sie zu ihrem persönlichen Glück geführt hat. Dementsprechend sind auch ihre Bücher ganz besonders lesenswert. Sie folgen keiner Mode, sondern orientieren sich an Helga Schuberts eigenen hohen Ansprüchen an die Literatur.
Es ist ein großer Verdienst des Regisseurs, Jörg Herrmann, dass auch dieser Dokumentarfilm frei ist von simplen Erklärungsmodellen. Stattdessen zeigt er Helga Schuberts bewundernswerte Begabung, niemals zu verbittern, sondern warmherzig und besonnen zu bleiben. Ebenfalls gelungen ist die elegante, beiläufige Art und Weise, mit der diese persönliche Biografie verwoben wird mit der Geschichte der DDR.
Sonntagskind ist das unbedingt sehenswerte Porträt einer Frau, der das Kunststück gelungen ist, trotz unglücklicher Umstände neugierig, integer und aufrichtig zu bleiben und die Schicksalsschläge in Literatur zu verwandeln.