China 2019 · 185 min. · FSK: ab 6 Regie: Wang Xiaoshuai Drehbuch: A Mei, Wang Xiaoshuai Kamera: Kim Hyun-seok Darsteller: Wang Jingchun, Yong Mei, Qi Xi, Wang Yuan, Du Jiang u.a. |
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Heimat, verloren. Heimat, gefunden. |
»Wenn es bestimmt ist, daß Meere die Dämme durchbrechen,
So lass alle Wasser der Bitternis in mein Herz hinein;
Wenn es bestimmt ist, dass Ufer sich erheben,
So lass die Menschheit ihrer Existenz neu einen Gipfel erwählen.«
– Bei Dao (北岛), Die Antwort (in der Übersetzung von Wolfgang Kubin)
Wann gibt es das schon, dass ein Film das Große durch das Kleine kongenial erleuchtet, dass er das Politische im Unpolitischen findet, die Welt in der Familie und dass die Länge dabei keine Rolle spielt, weil man der dichten erzählerischen Kraft mit all ihrer subtil-explosiven Kraft einfach nicht aufhören möchte zu folgen?
Wang Xiaoshuais Bis dann, mein Sohn ist einer dieser seltenen Filme. Für die der Begriff »Meisterwerk« dann auch fast schon zu abgedroschen, weil austauschbar erscheint. Denn was Wang Xiaoshuai, dessen bislang erfolgreichster Film Fahrraddiebe in Peking 2001 den Silbernen Bären auf der Berlinale und dessen Shanghai Dreams 2005 den Preis der Jury in Cannes gewannen, hier erzählt, ist so großes Kino, dass Worte diese Größe kaum füllen können. Was bleibt, nach diesem Film, ist so viel Verstehen über das Leben und seine vertrackten Zufälle, den Verlust von geliebten Menschen, von Schuld und Sühne, dass die Traurigkeit, die einen während dieses Films immer wieder unweigerlich überrollt, sich am Ende und weit über den Film zu einer völlig ver-rückten und diffusen Katharsis des Verstehens und des Vergebens entwickelt, die letztendlich nur von einem finalen Gefühl, nämlich tiefer Dankbarkeit durchflutet wird. Dankbarkeit für diesen Film.
Dabei ist Bis dann, mein Sohn eigentlich nur eine Familiengeschichte. Und der erste Teil von Wangs Heimattrilogie, der sich in asynchroner Erzählweise in 180 Minuten – die nie zu lang sind – des Schicksals zweier Familien bzw. dreier Paare annimmt. Eines Schicksals, das mit den frühen 1980ern noch von den Ausläufern der rigiden Ein-Kind-Politik und Maos Kulturrevolution geprägt ist, aber im Keim bereits den Wandel eines neuen Chinas birgt, der sich dann über die 30 Jahre, die die filmische Erzählung von Wang umspannt, auch tatsächlich manifestiert. Wir schauen dieser so schwierigen wie komplexen Entwicklung aus den Augen zweier Familien zu, die dann nicht nur über die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen auseinandergerissen werden, sondern auch durch den Verlust eines der beiden am gleichen Tag geborenen Söhne.
Die Stärke von Wangs Bis dann, mein Sohn liegt jedoch nicht allein in der erschütternden Tragik des verlorenen Sohnes und den so verzweifelt wie gefassten Versuchen der Betroffenen, sich trotz des Verlustes im Leben neu zu positionieren, sondern fast genauso in Wangs erzählerischem Mut, diese Kerngeschichte mit den politischen und wirtschaftlichen Veränderungen Chinas zu vertäuen und damit vielleicht eine der wichtigsten Fragen unserer Gegenwart überhaupt zu stellen: was ist in einer globalisierten, wirtschaftlich wie politisch zunehmend Amok laufenden Welt wie der unseren überhaupt noch Heimat: ist das Konzept von Familie und Freundschaft stark genug, um sich gegen die unkalkulierbaren Faktoren Politik und Wirtschaft überhaupt noch zu behaupten?
Wang gibt keine eindeutigen Antworten, was wohltuend und schmerzhaft zugleich ist. Er geht in seiner Betonung von Uneindeutigkeit jedoch noch weiter. Zwar betont Bis dann, mein Sohn die alte konfuzianische Weisheit: »Erzähle mir die Vergangenheit, und ich werde die Zukunft erkennen.« Doch macht Wang ebenso klar, dass Erkenntnis und Zukunft allein nicht ausreichen, nicht in Zeiten wie diesen, dass es vor allem auch auf eine Versöhnung mit der Gegenwart ankommt, um weiterzuleben und so etwas wie Heimat überhaupt zu erahnen.
Wang gelingt es dabei überraschend, diese im Kern der gesellschaftspolitischen Erzählung ja eigentlich eindeutige »chinesische Angelegenheit« zu einer universalen Geschichte zu formen, einer Geschichte, die uns alle angeht, die uns alle berührt. Dieser Brückenschlag ist zum einen Wangs Gespür zu verdanken, in der Darstellung des Politischen immer bei seinem Personal und ihrem Alltag (allein die Szenen, in denen gekocht und gegessen wird, sind großes, leidenschaftliches Kino) zu bleiben und am Ende nur die Folgen der Politik, aber nicht ihren Kern zu zeigen. Dabei wird dann vor allem deutlich, dass die letztendlichen Traumatisierungen durch politische und wirtschaftliche Repression in China sich nicht viel anders konturiert haben als etwa im Nachkriegsdeutschland, dass eine verwundete Gesellschaft dann doch eine verwundete Gesellschaft ist und keine primär chinesische oder deutsche. Und dass die Wunden von einst zum Balsam einer ungewissen Zukunft werden können.
Yang beweist dabei sowohl als Regisseur als auch als Drehbuchautor (zusammen mit Mei Ah) eine immer wieder sogartige, zarte, poetische Virtuosität, diese komplexe und immer auch widersprüchliche Gratwanderung auf emotionaler, theoretischer wie auch kinematografischer Ebene ins Rollen zu bringen: allein die Farbgebung und Fotografie der nicht nur historisch so unterschiedlichen »Chinas«, die dann noch einmal durch den Sprachhäcksler kaum vereinbarer chinesischer Dialekte geschickt werden, schaffen eine realistische Dichte, vor der etwa Jia Zhangkes Asche ist reines Weiß (2018) mit seinen sehr ähnlichen historischen Bezügen und Grundannahmen wie ein aufgesetztes, artifizielles Kunstwerk wirkt.
Bringt Yang seine Geschichte virtuos ins Rollen, so sind es dann aber die hervorragenden Schauspieler, die ihn zum Klingen bringen; ein Ensemble, das bis in die letzte Nebenrolle markant besetzt ist, allen voran das im Zentrum stehende Ehepaar Ehepaar Liu Yaojun und Wang Liyun, die von Wang Jingchun und Yong Mei in ihrer dreißig Jahre währenden Verwandlung derartig empathisch verkörpert werden, dass man tatsächlich den »Klang der Zeit« zu hören, zu spüren, zu schmecken und erst recht zu sehen meint.