Österreich 2021 · 88 min. · FSK: ab 12 Regie: Kurdwin Ayub Drehbuch: Kurdwin Ayub Kamera: Enzo Brandner Darsteller: Melina Benli, Law Wallner, Maya Wopienka u.a. |
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Riot Grrrls | ||
(Foto: Neue Visionen) |
Beobachtende Szenen, intime familiäre Atmosphären, lange, fast dokumentarisch wirkende Dialoge – dann wiederum das Hineinbrechen von lauter Musik in die Bilder, immer wieder kurz knallende Instagramstorys, wilde schnelle Passagen, Face-Filter, tanzende Jugendliche, die sich gegenseitig mit dem Handy filmen, ungewohntes Hochformat auf der Kinoleinwand.
Das sind die ambivalenten Bilder, die einem nach dem Sehen von Sonne erst einmal wieder zurück in den Kopf schießen.
Schon ganz am Anfang, mit der ersten Szene wirft uns Sonne in gemischte Gefühle. Wir befinden uns in einem Randbezirk von Wien, es beginnt mit Yesmin und ihren beiden Freundinnen Nati und Bella, die alle drei in den Hijabs und Gebetskleidern von Yesmins Mutter tanzen und twerken – zu »Losing my religion« von R.E.M. Sie drehen ein Musikvideo, albern herum. Und wir schauen dabei zu, es ist lustig, wir fühlen die aufgedrehte Energie der drei, ihr Toben, werden mitgezogen von ihrer lauten aufgedrehten Art, von Face-Filtern und schnellen Schnitten, haben fast Sehnsucht, Teil von dieser Energie und dem ganzen überschwänglichem Spaß zu sein – und fragen uns dabei trotzdem, ob wir das jetzt okay finden können, wie da zwei nicht-muslimische Mädchen in Hijabs twerken. Und wir verstehen so sehr schnell, dass es in Sonne um mehr geht, als um ein vielleicht unangebrachtes YouTube-Video, das viral geht.
Wenn man es kurz fassen will: In dem ersten Langspielfilm der österreichischen Regisseurin Kurdwin Ayub geht es um ein junges Mädchen aus einer kurdischen Familie, die ihre eigene Religion und kulturelle Identität hat und lebt, und ihre zwei besten Freundinnen, die ihr diese wegnehmen, ohne das zu beabsichtigen oder überhaupt auch nur zu merken. Es geht um kulturelle Identität, ums Verlorensein, um die Sehnsucht nach Zugehörigkeit in der Jugend.
Sonne ist ganz deutlich im Heute verortet und somit in einer Zeit, in der die Frage nach der eigenen Identität unausweichlich und immer präsent ist. Die Verwirrtheit darüber, wer man ist und wer man sein will, was Identität überhaupt bedeutet, schien nie intensiver auf junge Menschen einzudrücken als heutzutage. So auch auf Yesmin, Nati und Bella. Wenn sie gefragt werden, woher sie kommen antwortet die eine »aus dem Iran« die andere »Halbjugo« und die dritte »aus Österreich«. Doch so einfach und schnell, wie diese Kategorien automatisch aus ihnen herauskommen, ist es eben nicht. Und während einer von ihnen die eigene Identität und Kultur genommen wird, finden die anderen beiden in genau dieser plötzlich Halt und ein neues Gefühl von Zugehörigkeit.
Es sind sehr politische Fragen, die Sonne stellt, und trotzdem drängen sie sich uns nie auf. Sie werden nicht klar beantwortet, sondern mit einer angenehmen Offenheit behandelt. Sonne zeigt die Dinge nicht als grundsätzlich falsch oder richtig, sondern lässt sich viel Raum für Ambivalenz und Komplexität. Die Vielschichtigkeit der Figuren der drei Mädchen, vor allem auch der zwei besten Freundinnen, – beide auf den ersten Blick vor allem lustig, laut und schlagfertig – und die Ernsthaftigkeit, mit der der Film auch ihre Bedürfnisse und Sehnsüchte behandelt, nach Halt und Heimatgefühl in einer anderen Kultur, die sich so unerwartet für sie öffnet, lässt nicht zu, dass wir Zuschauenden uns in schnelle einfache Meinungen flüchten. So auch in Yesmins Familie, die wir am intimsten kennenlernen – Mutter und Vater werden übrigens von den Eltern der Regisseurin selbst gespielt. Der Vater ist über die Maße euphorisch über den YouTube-Erfolg seiner Tochter, fährt sie und ihre Freundinnen zu etwas grotesken Auftritten und will Teil dieses Spaßes sein – die Mutter hingegen ist verletzt, findet nicht in Ordnung, wie die Mädchen sich über ihre Kultur lustig machen.
Wo man meinen könnte, dass schnell hereinplatzende Social-Media-Clips im Hochformat unangenehm störend werden, indem sie diese ruhige Ernsthaftigkeit brechen, bewirkt das in Sonne das genaue Gegenteil. Alles wirkt sehr erfrischend real und dynamisch, bringt eine außergewöhnliche Energie und einen Sog mit sich, der die manchmal so überfordernde Schnelllebigkeit der heutigen Zeit spürbar macht. Und wir sind plötzlich Teil dieser Welt, teilen das Gefühl des Sich-Verlierens in all den Eindrücken, die unaufhörlich auf uns einprasseln.
Diese Dynamik und Energie, die entsteht, ist aufregend, oft sehr verspielt und befreiend.
Und zwischen dieser ganzen Energie und Lautstärke wird es trotzdem immer wieder sehr still und nachdenklich in Sonne. Immer wieder schauen wir ganz nah in Close-ups von Yesmins Gesicht, spüren ihre Verlorenheit, ihre plötzliche Distanz zu ihren Freundinnen, ihrer Familie. Wir sehen die Blicke einer jungen sehr emanzipierten, starken Frau, die ihre Religion lebt, und der ganz plötzlich und wie nebenbei ihre Stimme genommen wird. Die Lautstärke, Gegenwärtigkeit und Rohheit, die durch die Social-Media-Sequenzen kommt, macht diese verletzlichen Momente erst so eindringlich und stark.
Alles in Sonne wirkt echt und authentisch. Man merkt nun mal, wenn Filme über junge Menschen auch von jungen Menschen gemacht sind. Und man meint, ein Gefühl von Freude, Freiheit und Spaß am Filmemachen in Sonne zu spüren. Auch, dass Kurdwin Ayub einerseits aus dem Dokumentarischen kommt und andererseits aus einem Studium der performativen Kunst und aus dem Experimentellen. Wir erleben eine sehr neue Art der Nahbarkeit, die durch all diese besonderen Aspekte entsteht.
Und schließlich endet der Film dann auch irgendwie in Gefühlen der Verlorenheit. Und wir sehnen uns ein bisschen mehr nach einem Ende. So wirklich Halt findet niemand. Auch wir nicht. Aber das wäre vielleicht auch ein bisschen zu einfach.
Wir bleiben zurück in der Offenheit und Ambivalenz der erzählten Welt, verlieren uns vielleicht selbst ein bisschen darin, erkennen uns wieder. Eine einfache Meinung finden wir nicht so schnell. Wir bleiben konfrontiert mit unseren eigenen widersprüchlichen Gefühlen – gegenüber den Figuren und ihren Handlungen, und müssen so uns auch am Ende damit zufrieden geben, diese ehrliche Ambiguität und Unentschlossenheit auszuhalten.