Belgien/F/NL 2024 · 157 min. · FSK: ab 16 Regie: Johan Grimonprez Drehbuch: Johan Grimonprez Kamera: Jonathan Wannyn Schnitt: Rik Chaubet |
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Jazz ist politisch, aber manchmal ganz anders, als man glauben will... | ||
(Foto: Grandfilm) |
Heute ist das alles unvorstellbar: Anfang 1961 drang eine Gruppe von Bürgerrechtsaktivisten in eine Sitzung des Sicherheitsrats der UNO ein, um gegen die Ermordung des kongolesischen Führers Patrice Lumumba zu protestieren. Unter ihnen waren die Musiker Max Roach und Abbey Lincoln sowie die Schriftstellerin Maya Angelou.
Es waren unruhige Zeiten. Mitten im Kalten Krieg, noch vor der Cuba-Krise. In den USA bewegte sich die Civil-Rights-Bewegung ihrem Höhepunkt entgegen. Weltweit veränderte die Entkolonialisierung die Landkarten von Asien und Afrika. Und jedes neue Land bedeutete eine weitere Stimme in der Generalversammlung der UNO. Es war die Zeit, in der Ghana und Guinea vergeblich versuchten, die 'Vereinigten Staaten von Afrika' zu gründen. In der die »Bewegung der Blockfreien« Staaten ins Leben gerufen wurde. Die Zeit, als Ägypten den Suezkanal verstaatlichte, und bald von den Geheimdiensten aller Länder bedrängt wurde. Dies alles und noch viel mehr ist jene turbulente Welt, die in Soundtrack to a Coup d’Etat von dem Belgier Johan Grimonprez wieder zum Leben erweckt wird.
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Dies ist ein überbordender Film, im Stil ein Produkt unseres Zeitalters und der neuen Wahrnehmung, die durch den schnellen und simultanen Konsum von Eindrücken entstanden ist. In seiner ultradynamischen Montage wird häufig eine subversive Komik durch den Widerspruch aus Bildern und Worten angestrebt.
Soundtrack to a Coup d’Etat vom belgischen Filmemacher Johan Grimonprez ist eine überwältigende, ideenreiche Reise, die amerikanischen Jazz, Geopolitik und imperialistische Machenschaften der 1950er und 60er Jahre miteinander verwebt.
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Jazz ist politisch, aber manchmal ganz anders, als man glauben will. Anfang der sechziger Jahre wurden Jazzmusiker wie Louis Armstrong und Dizzy Gillespie vom US-Außenministerium nach Afrika geschickt, um in der Phase, in der viele afrikanische Staaten unabhängig wurden, die antikommunistische Propaganda zu verstärken. Für die USA ging es um die Ausbeutung natürlicher Ressourcen wie dem kostbaren Uran im damaligen Belgisch-Kongo. Jetzt wurde Soundtrack to a Coup d’Etat von Johan Grimonprez für einen Oscar nominiert.
Es wäre eine Untertreibung, diesen außergewöhnlichen Essay-Film als »Musikdokumentation« zu beschreiben – denn er handelt von so viel mehr: dem Kalten Krieg, den postkolonialen Massakern und Bürgerkriegen in Afrika, von der Ermordung von Patrice Lumumba, dem linken Hoffnungsträger und Premierminister der neu unabhängigen Demokratischen Republik Kongo, im Jahr 1961 – und Nikita Chruschtschows berühmter Schuh auf dem UNO-Tisch, theatralisch eingesetzt zur Verteidigung der afrikanischen Autonomie...
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Im Zentrum des neuen Dokumentarfilms des belgischen Künstlers steht eine ehemalige Kolonie seines Heimatlandes, der Kongo, wieder einmal, wie auch gerade jetzt, wo an der Grenze zu Ruanda blutige Massaker aufgeflammt sind – ferne Echos der berüchtigten »Kongo Krise«.
Dies war der turbulente Zeitraum von den 1950er Jahren bis zum Staatsstreich des Militärs Joseph-Désiré Mobutu 1960 und der Ermordung von Lumumba. Dabei wird auch die Rolle der belgischen Kolonialherren,
der USA unter Federführung der CIA, der Sowjetunion sowie zahlreicher afrikanischer und asiatischer Staaten auf dem Weg zur eigenen Unabhängigkeit und afroamerikanischer Jazzmusiker beleuchtet.
Die Geschichte des Kongo, eines Landes, das sehr reich an natürlichen Ressourcen ist, aber auch an ethnischen Verwerfungen, ist gezeichnet von politischer Instabilität, brutalem Blutvergießen und extremer Ungleichheit. Diese Probleme sind keineswegs allein eine Folge von ausländischen Interventionen und von Kolonialismus. Man sollte die Einheimischen nicht vorschnell aus der Verantwortung entlassen. So, wie »ausländisch« auch nicht immer bedeutet: Europa, Norden, Westen.
Doch im Mittelpunkt dieses Films steht eine Erkundung der politischen Dimension des Jazz und der Musik selbst, die frei und unruhig durch jeden Moment pulsiert. Musik und Musiker dienten als Deckmantel für die Eliminierung Lumumbas und seiner Politik.
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Unterstützt von zahlreichen Zitaten, die entweder in jazzartig stilisierten Schlagzeilen erscheinen oder sachlich mit akademischen Fußnoten präsentiert werden, bieten die Protagonisten dieser realhistorischen Saga eine erfrischende politische Vielstimmigkeit.
Während sich der Film zu einem Finale entwickelt, das eines politischen Thrillers würdig ist, wechseln sich menschliche Stimmen und musikalische Passagen ab, ergänzen sich, bremsen und beschleunigen, verdoppeln und widersprechen sich.
Wenn Grimonprez' Werk überhaupt herausragende Protagonisten hat, dann befinden sie sich am Rande des sich um Lumumba zunehmend enger schließenden Rings von Nikita Chruschtschow, Louis Armstrong und Lumumbas enger Mitarbeiterin Andrée Blouin.
»Soundtrack für einen Staatsstreich« ist ein beeindruckender Film, der sich bereits jetzt ohne Zögern unter die höchsten Errungenschaften der zeitgenössischen Dokumentarfilmkunst einreihen lässt.
Den gesamten Film auf den Punkt bringt eine lange Montage-Sequenz, die von Stilformen des Musikvideos, der Ästhetik von Jazz-Plattencovern und den typografischen Designeinfällen von Jazzmagazinen geprägt ist.
Dieser Montage-Bilder-Bewusstseinsstrom wird von Armstrongs Version von Édith Piafs »La Vie en Rose« begleitet, während Bilder von Satchmo auf seiner Afrika-Tournee zu sehen sind, wo sein Konzert tatsächlich als trojanisches Pferd im amerikanisch-sowjetischen Kampf um das Uran in der Provinz Katanga dient.
Gleichzeitig werden Aufnahmen von Eisenhowers Versprechen, sich nicht in die Politik des Kongo einzumischen, und Dokumente über die Verschwörung gegen Lumumba gezeigt, die das Gegenteil beweisen.
Während die Sequenz voranschreitet, verwandelt sich die romantische und heitere Ballade La Vie en Rose in ein gespenstisches Echo ihrer selbst, verlangsamt sich und wird bedrohlich, bis sie schließlich ganz verschwindet.
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In dieser brillanten »Jazzifizierung« des Kampfes um ein unabhängiges Kongo und anderer afrikanischer und asiatischer Staaten, die später der Gruppe der »blockfreien« Staaten der Dritten Welt angehörten, sind historische Persönlichkeiten wie Chruschtschow, Fidel Castro oder Malcolm X Teil eines politischen Jazz-Ensembles. Sie treten in kleinen Solopartien hervor, übernehmen die ´Geschichte bevor sie sich wieder zurückziehen, sie spielen mehrstimmig, im Kontrapunkt oder ganz dissonant, halten inne, zitieren und werden zitiert, spielen komplexe oder monotone Partituren.
Der Jazz in diesem ambitionierten Werk von schwindelerregendem Tempo dient gleichzeitig als Soundtrack für den Film, gibt ihm Rhythmus, Ton und Intensität vor, fungiert aber auch als kultureller und historischer Kommentar.
Schwarze US-amerikanische Jazzmusiker, allen voran Louis Armstrong und Dizzy Gillespie, sind nicht nur Vorboten der Emanzipation oder Schöpfer und Interpreten der amerikanischen Soft-Power, des US-Kulturimperialismus, sondern auch direkte
Werkzeuge der Zwecke amerikanischer Politik und Wirtschaft.
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Diese Geschichte ist alles andere als kohärent, geradlinig und glatt: Sie ist voller Widersprüche und Unebenheiten, Unlogiken und Lücken.
Aber dem Film gelingt es durch exzellente Montage, die Komplexität der Geschichte zumindest ansatzweise zu vermitteln.
Dieser detaillierte und faszinierende Film springt zwischen Zeitlinien und Kontinenten hin und her. Die Verbindung zwischen Musik und Imperialismus besteht im Einsatz ahnungsloser Jazzmusiker (wie etwa Louis Armstrong) durch die CIA. Die Musiker dienten als perfekte Tarnung.
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Dies ist ein Werk mit großem Bogen und großem Anspruch; einer jener Filme, die von den müden Bildungsbürgern unserer Breitengrade oft als »Geschichtsstunde« bezeichnet werden; von den Antiintellektuellen als »didaktisch« und wortlastig.
Es kann tatsächlich ermüdend und frustrierend sein, wenn man sich nicht auskennt und nicht auskennen will, wenn man versucht, krampfhaft alle Details zu erfassen. Let it go with the flow könnte man darauf erwidern, man darf sich Filme zweimal ansehen, solche allemal. Auch eine Jazz-Schallplatte wird man selten beim allerersten Mal schon ausgeschöpft haben.