Soul

USA 2020 · 100 min. · FSK: ab 0
Regie: Pete Docter, Kemp Powers
Drehbuch: , ,
Musik: Trent Reznor, Atticus Ross
Schnitt: Kevin Nolting
Filmszene »Soul«
So großartig wie grotesk, so klug wie komplex
(Foto: Disney+)

Am Morgen ein Joint und der Tag ist dein Freund

Soul ist der ungewöhnlichste und klügste Pixar-Film seit Langem. Und das nicht nur, weil er den »American Dream« so salopp wie humorvoll abserviert, sondern gleich auch noch nach dem Sinn des Lebens fragt

Oh, get born, keep warm
Short pants, romance
Learn to dance, get dressed, get blessed
Try to be a success
Please her, please him, buy gifts
Don’t steal, don’t lift
Twenty years of schoolin
And they put you on the day shift
– Bob Dylan, Subter­ra­nean Homesick Blues

And then one day, finally, after waiting however many decades for it, after how many nights staring at the ceiling or my poster of Bruce Lee or hearing Sifu’s words in my head, I finally got my shot. And when I did, you know what? I thought: I wonder why I wanted this so
bad.

– Charles Yu, Interior Chinatown

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Es ist schade, dass es jetzt auch diesen Film trifft. Nachdem Disney den welt­weiten Kinostart des neuen Pixar-Films im Oktober 2020 Corona-bedingt abgesagt hatte, erscheint Soul nun am 25. Dezember auf Disney+. Aber anders als Mulan ohne Aufpreis. Er ist damit der erste Pixar, der nicht auf die große Leinwand kommt, sondern – bis auf ein paar Länder, in denen Disney+ noch nicht verfügbar ist – nur über ein Streaming-Portal abrufbar ist. Das ist wirklich schade, denn Soul ist ein cine­as­ti­sches und visuelles Feuerwerk. Doch es ist auch großartig, dass Soul gerade jetzt erscheint, denn er ist auch einer der unge­wöhn­lichsten, radi­kalsten, fanta­sie­vollsten und intel­li­gen­testen und der wohl »erwach­senste« Film, den Pixar je gemacht hat. Ein Film, dessen fantas­ti­sche Anima­tionen so eindrück­lich in die Erzählung einge­bettet sind, dass man diese immer wieder vergisst und sich in einem Realfilm glaubt. Ein Film, der das Genre des klas­si­schen Fami­li­en­films sprengt. Ein Film also, auf den niemand noch länger hätte warten wollen.

Dabei hatte sich das schon ange­deutet, als Pixar bekannt gegeben hatte, dass nicht nur Urgestein Pete Doctor an Soul beteiligt sein würde, sondern auch der afro-ameri­ka­ni­sche Drama­tiker und Dreh­buch­autor Kemp Powers. Denn hat Doctor mit seinen Meis­ter­werken Oben und Alles steht Kopf bewiesen, dass man selbst für das Unsagbare (Alters­ver­bit­te­rung und Pubertät) konge­niale Geschichten und Bilder erfinden kann, so hat Powers mit seinem Stück One night in Miami (das dieses Jahr auch verfilmt worden ist) aus einem ikoni­schen Moment afro-ameri­ka­ni­scher Geschichte so etwas wie eine Super­rol­len­mo­dell­blau­pause geschaffen, direkt und subtil zugleich.

Das bedeutet für Soul aller­dings auch, dass nach Alles steht Kopf Pixar erneut das Risiko eingeht, ein für Kinder und damit den klas­si­schen Fami­li­en­film fast schon unver­käuf­li­ches Thema zu einer über­bor­denden, etliche Rahmen spren­genden Geschichte zu machen. Denn es geht in Soul um nicht mehr und nicht weniger als den Sinn des Lebens. Und der wird, nicht nur in ameri­ka­ni­schen Fami­li­en­filmen, ja nur allzu­gerne im harmo­ni­scher Umarmung mit dem »American Dream« gefunden: Suchst du nur lange und ehrgeizig genug, wirst du auch Erfüllung finden und Erfolg haben.

Doctor und Powers machen jedoch alles anders, indem sie das sonst stets am Ende eines Films stehende kathar­ti­sche Finale gleich an den Anfang ihrer Geschichte stellen. Und mehr noch: zum ersten Mal in Pixar-Zeiten stehen ein Afro-Ameri­kaner und sein Umfeld im Zentrum einer Geschichte. Einer Geschichte, die im Herzen eine sehr düstere Geschichte ist, die in ihrer präzisen, punk­tu­ellen Brillanz an das Intro von Oben erinnert, in dem in wenigen Minuten ein ganzes Leben Revue passiert. In Soul ist das Intro sehr ähnlich kompo­niert, statt­dessen sehen wir aber ein ganzes Leben im Still­stand. Und zwar das von Joe Gardner, der sein Leben dem Jazz gewidmet, es aber nie geschafft hat, auf einer großen Bühne zu stehen, sondern statt­dessen als Lehrer an einer Mittel­schule in New York sehr mittel­mäßige Kinder in mittel­mäßiger Musik unter­richtet.

Doch an jenem Tag, an dem die Geschichte beginnt, ist alles anders, erfährt Joe nicht nur, dass er endlich fest­an­ge­stellt werden soll und damit so etwas wie Sicher­heit im Leben erlangt, sondern er wird auch von der Jazz-Größe Dorothy Parker nach einem kurzen Vorspiel ausge­wählt, ein Konzert mit ihr zu spielen. Doch statt nun dem Ende von Joes Midlife-Crisis beizu­wohnen, sehen wir ihn vor lauter Freude auf seinem Rückweg in ein Loch stürzen, befindet er sich statt auf dem Weg zum Ruhm auf einem Laufband in den Himmel, ins »Great Beyond«. Doch Joe will sich seinen Traum nicht vom Tod verderben lassen und springt wieder ab, um im »Great Before« zu landen, wo die Seelen auf ihre »Wieder­ge­burt« vorbe­reitet werden. Mehr soll nicht erzählt werden, denn schon in diesen Anfangs­se­quenzen (!) wird deutlich, dass Soul mehr ist: nicht nur Musik (Soul), sondern auch Seele (Soul), Mut (Soul) und Bestim­mung (Soul).

Deshalb ist es auch nicht zuviel verraten, dass Joe mit der Hilfe ein paar anderer Seelen den Sprung zurück­schafft, wenn auch ganz anders als geplant. Dies sei nur deshalb erwähnt, weil sich besonders hier zeigt, wie klug das von Doctor und Powers geschrie­bene Drehbuch ist. Sie refe­ren­zieren nicht nur aus einem breiten kultu­rellen Pool, setzen etwa Bob Dylans Subter­ra­nean Homesick Blues in einen völlig neuen Kontext, sondern lassen auch Picasso zum Jäger des verlo­renen Schatzes werden. Das ist so, wie es sich anhört – so großartig wie grotesk, so klug wie komplex.

Doch bleibt es dabei nicht, bleibt es nicht bei der Darstel­lung des Undar­stell­baren. Soul windet sich statt­dessen wie ein Diamant­bohrer in post­mo­derne Inter­tex­tua­lität, in die vertrackten Windungen von Depres­sion und Ekstase und in eine spiri­tu­elle Suche nach dem Sinn des Lebens, mit Zwischen­stopps in Chris­tentum und Buddhismus, die zu bester hippiesker New-Age-Philo­so­phie amal­ga­miert werden, ohne dabei jemals den Plot aus den Augen zu verlieren und zu einer puren Stunde in Philo­so­phie zu werden. Und ohne dabei auch die Kinder zu vergessen, das Konzept des »Fami­li­en­films«, das über fantas­tisch getaktete Slapstick-Elemte, Tier- und Mensch-Antago­nismen (Mensch vs. Katze) und  fanta­sie­vollste, umwer­fendste Anima­tionen vollauf bedient wird.

Soul führt ein für ameri­ka­ni­sche Verhält­nisse fast schon radikales »Back to the Future« vor, denn irgendwie und irgend­wann landet der Film zumindest spiri­tuell dann tatsäch­lich in den guten alten Hippie-Tagen mit ihrem radikalen Carpe-Diem-Ansatz, erzählt die Legende vom Fisch im Wasser, dessen Traum der Ozean ist, bis ihm klar gemacht wird, dass er dort schon längst ist, eine Erkenntnis, die schon ernüch­ternd genug wäre.

Aber Docter und Powers gehen weiter und schieben Soul sogar noch die so komplexe wie ernüch­ternde afro-ameri­ka­ni­sche Rassismus- und Iden­ti­täts­bil­dungs­de­batte unter. Auch das wird so subtil, klug und fast schon diabo­lisch leicht­füßig insze­niert, dass es eine wahre Lust ist, diesem Drehbuch und seiner Umsetzung zu folgen. Ange­fangen vom Besuch bei einem afro-ameri­ka­ni­schen Friseur, den Schwie­rig­keiten, als Schwarzer in New York ein Taxi anzu­halten bis zur viel­leicht zentralen Frage, ob nicht auch die Jazz-Musik mit ihrer so demons­trativ zele­brierten afro-ameri­ka­ni­schen Tradition am Ende eine Falle ist.

Damit zieht Soul im Grunde die gleichen Schlüsse wie Charles Yu in seinem dies­jäh­rigen, mit dem National Book Award ausge­zeich­neten Roman »Interior Chinatown« für die chino-ameri­ka­ni­sche Iden­ti­täts­suche: »But at the same time, I’m guilty, too. Guilty of playing this role. Letting it define me. Inter­na­li­zing the role so comple­tely that I’ve lost track of where reality starts and the perfor­mance begins. And letting that define how I see other people. I’m as guilty of it as anyone. Fetis­hi­zing Black people and their coolness. Roman­ti­ci­zing White women. Wishing I were a White man. Putting myself into this category.«

Ist Yu am Ende jedoch so sprach­reich wie hoff­nungslos, bekennt sich Soul zu einer hand­festen Lösung. Und die ist, und auch das ist über­ra­schend, weder christ­lich noch sonst was, am aller­we­nigsten aber eine Anbie­de­rung an den »American Dream«.

Soul ist ab dem 25.12.2020 auf Disney+ abrufbar.