Großbritannien/F/B 2019 · 101 min. · FSK: ab 12 Regie: Ken Loach Drehbuch: Paul Laverty Kamera: Robbie Ryan Darsteller: Kris Hitchen, Debbie Honeywood, Rhys Stone, Katie Proctor, Ross Brewster u.a. |
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Einer von Vielen, keiner für alle (Foto: NFP/Filmwelt) |
»Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.« - Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Oekonomie, Vorwort (1859)
Was soll nur kommen, wenn der bald 84-jährige Ken Loach nicht mehr ist? Wer soll die Filme machen, die Ken Loach und niemand anders als Ken Loach bislang gemacht hat!? Politisches, sozialkritisches, aber auch zärtliches und poetisches Kino, das nicht nur durchdringt, sondern den Betrachter politisiert, ob er es nun will, oder nicht! Den immer interessiert hat, das Kleine über das Große zu erklären, der über zahlreiche Mikroebenen immer auch die Makroebene torpediert hat, der mit seinem kongenialen Drehbuchautor Paul Laverty nicht nur den Alltag abgehangener und vergessener Gesellschaftsschichten brennglasartig porträtiert, sondern sich auch historischen Ungerechtigkeiten wie in The Wind That Shakes the Barley gestellt hat.
Hatte Loach in seinem letzten Film, dem Cannes-Gewinner Ich, Daniel Blake (2016), die Geschichte eines Frührentners, der in einem völlig verwahrlosten Sozialstaat für seine Sozialleistungen kämpft, noch in einen immer wieder aufblitzenden, bitterbös-schwarzen, anarchischen Humor gebettet, ist dies mit Sorry We Missed You aus und vorbei.
Denn statt Humor gibt es in Loachs neuem Film nur noch Hiob. Und wie sollte es auch anders sein, sieht diese Geschichte doch jeder von uns vor seiner eigenen Haustür, wenn der Paketbote nicht nur zwei Mal klingelt, sondern drei Mal, um seine Lieferung loszuwerden, oder gleich gar nicht klingelt, um seine Pakete gesammelt im nächsten Café abzugeben. Denn Zeit ist Geld, das zumindest ein Paketbote eben nicht hat. Doch Loach belässt es nicht bei seinem Porträt von Ricky Turner (Kris Hitchen), der mit der Wirtschaftskrise von 2008 eine Menge verloren hat und nun mit den Segnungen eines Franchises für ein Logistikunternehmen wieder auf die Beine kommen will. Loach seziert nicht nur gnadenlos die verlogenen Franchise-Heilsversprechen, sondern folgt auch Rickys Frau Debbie in ihrer mobilen, gleichermaßen völlig entkernten Krankenpflegertätigkeit, die Loach Gelegenheit gibt, über die dargestellte Kernfamilie hinaus ein düsteres Mosaik der verarmten englischen Gegenwartsgesellschaft zu zeichnen.
Die Wut auf die Folgen der neoliberalen, populistischen englischen Politik und Wirtschaft verleitet einen fast dazu, den Brexit gutzuheißen, um diese Politik wenigstens aus dem europäischen Parlament raus zu haben, aber nur einen Gedankengang später wird wohl jeder ernüchtert erkennen, dass es bei »uns« nicht anders ist. Und dazu braucht es gar nicht mal filmische Beispiele wie Ein Becken voller Männer oder Die Wütenden – Les Misérables für die französische Misere oder Filme wie Atlas oder Sterne über uns, die zumindest in Ansätzen zeigen, dass England inzwischen fast überall in Europa angekommen ist.
Immerhin, so ganz will uns Loach dann doch die Hoffnung nicht nehmen, sind es zumindest die Kinder in Loachs Film, die so etwas wie Zuversicht verkörpern. Damit gibt Loach allerdings auch zu, dass auf Politik nun wirklich nicht mehr zu bauen ist, dass es inzwischen wie in jedem totalitären Staat am Ende die Familie ist, die es richten wird. Dass diese subversive Moral der Geschichte auch die neuesten Filme aus China vermitteln, sei es Bis dann, mein Sohn oder auch The Farewell, tröstet wohl kaum, sondern zeigt vielmehr, wie nah sich die einst so unterschiedlichen politischen Systeme inzwischen gekommen sind und politische Visionen in Zeiten des politischen Populismus völlig ausgemerzt scheinen.
Wem das alles zu viel Loach ist, der kann sich vielleicht damit trösten, dass Loach nicht nur in seinem »Sozial-Drama«-Ansatz wie kaum ein anderer treu geblieben ist, sondern auch seiner technischen Art und Weise Filme zu drehen. Denn wie vor über 50 Jahren zu Anfang seine Karriere dreht Loach als einer der wenigen Regisseure auch heute noch auf Zelluloid, ist Sorry We Missed You auf Kodak entstanden, was den einen kaum die Erwähnung wert sein wird, dem anderen aber ein großes Glück bedeuten dürfte.