Kanada/GB/F 2002 · 98 min. · FSK: ab 12 Regie: David Cronenberg Drehbuch: Patrick McGrath Kamera: Peter Suschitzky Darsteller: Ralph Fiennes, Miranda Richardson, Gabirel Byrne, Lynn Redgrave u.a. |
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Herr Fiennes im Gedankennetz |
Ein Zug fährt in einen Londoner Bahnhof ein. Düster-deprimiert ist die Atmosphäre. Sie hat etwas Altmodisches, ein wenig Zeitloses, und wird sich den ganzen Film über nicht verändern. Inwieweit das, was man da sieht, von dieser Welt ist, das bleibt lange Zeit die Frage. Zunächst einmal sieht man nichts. Menschenmassen steigen zwar aus dem Zug, viele von ihnen wirken wie Pendler, die hier jeden Morgen zu ihrer Arbeit hasten. Aber, das vermittelt der Film auf kaum merkliche Weise, es geht um anderes. Man wartet, erwartet noch etwas. Und ohne ihn überhaupt zu kennen, weiß man eigentlich schon, dass man auf Spider wartet, die Titelfigur von David Cronenbergs neuestem Film.
Wenn man einige von Cronenbergs Filmen kennt, geht man mit ganz bestimmten Erwartungen in einen neuen Film von ihm hinein, erst recht, wenn dieser Spider heißt. So erwartet man fast selbstverständlich, irgendwann Spinnen zu sehen. Sie kommen im Film nicht vor. Cronenberg bricht auch mit vielen anderen Vorannahmen des Zuschauers, zugleich ist dies doch ganz und gar ein Cronenberg-Film geworden. Denn Spider ist auch ein Spiel mit Handlungs-Konventionen, eine für diesen Regisseur typische Genre-Dekonstruktion, die das Genre sozusagen im Kern erhält, aber seine Elemente so entfaltet, dass es kaum noch wiederzuerkennen ist. In diesem Sinne darf man Spider trotzdem einen Horrorfilm nennen, nur eben einen Horrorfilm anderer Art. Der Schrecken ist hier ins Innere verlagert, auch in das des Zuschauers.
Schon die ersten Bilder zeigen das: Die rätselhafte Eingangssequenz, während der die Filmcredits laufen, zeigt eine Folge von Photographien roher Wände. Zum Teil ist die Farbe abgeblättert, zum Teil Tapeten heruntergerissen. Ein merkwürdiger Eindruck, den man sich nicht sofort erklären kann. Erst wenn man genau hinschaut, entdeckt man das Geheimnis: Cronenberg hat Photographien gespiegelt. Dadurch funktionieren sie wie Bilder von Rohrschachtests, wie Gesichter oder Muster, die merkwürdig zu begreifen, aber in ihrer Mehrdeutigkeit äußerst faszinierend sind. Ein subtiler Anschlag auf das Bewußtsein des Zuschauers – wie der ganze, vorzüglich genau designte Film. Indem er die Analogie zu Rohrschachtests wachruft, nimmt der Regisseur den Wahnsinn, die Doppeldeutigkeit, die im Zentrum seines Films steht, visuell vorweg. Und er verankert durch die verrottenden Wände von Anfang an einen zweiten Eindruck im Unterbewußtsein des Betrachters: Verfall. Absoluter, unaufhaltsamer Verfall.
Nach dieser Sequenz folgt die eingangs beschriebene Szene auf dem Bahnhof. Nachdem alle Fahrgäste ausgestiegen sind, der Zuschauer – wie einer, der selbst am Bahnsteig jemanden abholen möchte –, viele ihrer Gesichter abgetastet hat, in der Erwartung, einer von ihnen werde durch die Kamera hervorgehoben, werde sich als jener entpuppen, um den es »hier geht«, wird der Bahnsteig leer. Die Kamera schiebt sich am Zug entlang, eine ganze Weile, bis eine Tür erreicht ist. Dann erst steigt er aus, oder besser: schiebt er sich aufs Gleis: Spider, gespielt von Ralph Fiennes. Er ist unendlich langsam, schmutzig bis zur Verwahrlosung, und das auch in seiner Seele das Chaos herrscht, erkennt man in wenigen Sekunden. Die scheu umherkreisenden Blicke seiner Augen verraten es ebenso, wie die übrige Mimik, seine Bewegungen. Und der Inhalt seiner Tasche, den wir bald darauf zu sehen bekommen, macht endgültig klar: Hier sieht man einen völlig auf sich gestellten Mensch, bar jedes inneren wie äußeren Halts. Der nackte Mensch an sich: Verlassen. Verstört. Unsicher. Preisgegeben. Allein. Er hat das, was er hat, und das ist sehr wenig.
Es ist eine prototypische Figur, weniger ein Charakter, als die Gestalt eines philosophischen Buches, die Cronenberg ins Zentrum seines Films gestellt hat. Und die Bücher, aus denen diese Figur stammt, sind weder die Schriften Freuds und seiner Nachfolger, keine komplizierten Abhandlungen über den Ödipuskomplex, obwohl es hier um einen Sohn geht, den ein, nunja: äußerst kompliziertes Verhältnis mit seinen Eltern verbindet, noch die antiödipalen Unternehmungen der Postmoderne. Sondern es sind die Schriften von Sartre und Camus, der Existentialismus, für den Cronenberg, der eben mehr ist, als der postmoderne Regisseur der »Körpermedien« und des »neuen Fleisches«, auf den er oft reduziert oder vereinseitigt wird, eine erklärte Vorliebe hegt: Spider ist ein »Fremder«, sein Weltverhältnis am ehesten mit der Hauptfigur von Sartres Roman »Der Ekel« vergleichbar: Ein Desorientierter, dem noch die einfachste Alltagshandlung zum schweren Problem wird, dessden Weltverhältnis durch Absurdität bestimmt ist. Faszinierend spielt ihn Ralph Fiennes, fast schweigend, mit tonloser Schmerzintensität. Einer, der von innen verbrennt.
Der Film beobachtet diesen Mensch durch einige seiner Tage. Die verbringt er in einem Asyl für psychisch Gestörte, die man offenbar für die Außenwelt nicht weiter gefährlich hält. Offenbar – aber ganz sicher kann man nicht sein, weil zunehmend unklar ist, ob das, was man sieht, sich in der »wahren Welt« abspielt, oder »nur« in Spiders Kopf. Und vielleicht ist ja auch hier die »wahre Welt«. Cronenberg hält diese Ebenen ganz bewußt nicht auseinander, vermischt sie. So mäandern wir per Rückblick durch Spiders Vergangenheit, durchleben seine Erinnerungen an die Eltern und den Tod der Mutter, realisieren, wie er dafür dehn Vater verantwortlich macht, und zweifeln doch früh, ob wir Spiders Erinnerungen überhaupt glauben dürfen.
Damit ist Cronenbergs Film – das Drehbuch schrieb Patrick McGrath, unterstützt vom Regisseur, nach seinem Roman – im mehrfachen Sinn hochaktuell: Es ist zum einen eine Abhandlung über den Komplex »Gedächtnis« und »Erinnerung«, derzeit eines der meistdiskutierten akademischen Themen. Cronenberg illustriert nicht nur den Leidensdruck durch Verdrängtes, zugleich die Subjektivität allen Gedächtnisses und zeigt, dass man manches nicht vergessen kann. Er plädiert zugleich gegen die beliebte Verklärung jedweder Form von Erinnerung. Etwas Verdrängtes ins Bewußtsein zurückzuholen kann nicht nur schmerzhaft sein, es kann einen Menschen vernichten. Spider ist auch ein hochaktuelles, zugleich – der Film entstand schon 2001 – frühes Beispiel für die derzeitige Kino-Mode, einen Film aus der Innenansicht eines – möglichst verrückten, jedenfalls manipulierten Bewußtseins zu erzählen.
Dabei gelingt dem Film auch eine interessante und zwingende Aktualisierung des Existentialismus, die aller Aufmerksamkeit wert ist. Schließlich aber ist Spider ein einfühlsamer, sehr sorgfältiger Film, dessen eindringliche Bilder im Betrachter weiterleben: Das Portrait eines Mannes, der in einem geschlossenen System existiert, und der sich in seinem eigenen Spinnennetz längst verheddert hat. Freiheit, und hier unterscheidet Cronenberg sich doch von Sartre, ist da nicht mehr zu finden.