Die Spielwütigen

Deutschland 2004 · 108 min. · FSK: ab 0
Regie: Andres Veiel
Drehbuch:
Kamera: Hans Rombach
Darsteller: Karina Plachetka, Stephanie Stremler, Prodromus Antoniades, Constanze Becker u.a.
Gretchen im See – Stephanie Stremler

Wie viele Holly­wood­filme sind voll von der Prämisse: Du kannst es schaffen, wenn Du nur willst! Die außer­fil­mi­sche Realität beweist oft genug, dass Wille und Ausdauer nicht alles sind – aber ganz ohne geht es auch nicht. Besonders in Berufen, die die ganze Persön­lich­keit fordern, wie dem Schau­spiel­beruf. Andres Veiel verfolgt sieben Jahre lang, von 1996 bis 2003, den Werdegang von vier jungen Leuten, die sich bei der Hoch­schule für Schau­spiel­kunst Ernst Busch in Berlin beworben haben.

Nicht erst seit Kleine Haie weiß man, dass der Weg an die Schau­spiel­schule kein leichter ist, dass oft genug zahl­reiche Bewer­bungen nötig sind, um einen Platz zu bekommen. Nicht ganz so bekannt ist die schlechte Arbeits­markt­si­tua­tion: trotz der harten Auswahl werden immer noch viel mehr Darsteller ausge­bildet, als später unter­kommen können. Erschwe­rend kommt hinzu, dass zwar über­wie­gend Frauen die Ausbil­dung absol­vieren, an den Theatern aber mehr Männer benötigt werden – besonders die Klassiker weisen viel mehr Männer- als Frau­en­rollen auf. Und wenn die vielfach von öffent­li­cher Hand geför­derten Theater den Sparzwang der Kommunen und Länder zu spüren bekommen, sind es nicht die fest­an­ge­stellten Hand­werker hinter den Kulissen, an denen gespart werden kann, sondern die Darsteller mit ihren Zeit­ver­trägen. Von den ungüns­tigen Arbeits­zeiten und der örtlichen Flexi­bi­lität, die von den Schau­spie­lern gefordert werden, ganz zu schweigen. Denn die meisten Jobs gibt es nach wie vor an den Bühnen, billige TV-Produk­tionen greifen lieber auf Laien zurück.

Man muss also schon einen leichten Wahnsinn kulti­vieren, um sich mit Leib und Seele gerade diesem Beruf hinzu­geben, man muss äußerst selbst­si­cher und – spiel­wütig sein. Und das sind sie, schon als wir sie im Kreis ihrer Familien kennen lernen, wenn sie sich zu Hause auf die Aufnah­me­prü­fung vorbe­reiten und eine Probe ihres Könnens geben. Die Eltern reagieren sehr unter­schied­lich, vorsichtig bis skeptisch, voller Angst, dass sich der Traum von Constanze, Karina, Prodromos und Stephanie als Hirn­ge­spinst erweisen könnte. Die Zeiten, als der Schau­spiel­beruf als unsolide galt, sind offenbar noch nicht vorbei. Es ist ein großer Schritt, wenn man auch ohne Vers­tändnis und Unter­s­tüt­zung der Eltern den eigenen Weg zu gehen bereit ist.

Andres Veiel, der mit Black Box BRD bekannt wurde, in dem er die Lebens­läufe des ermor­deten Bankchefs Alfred Herr­hausen und des bei einem Fest­nah­me­ver­such erschos­senen Terro­risten Holger Grams gegen­ein­ander setzt, erzählt mit Die Spiel­wü­tigen unglaub­lich viel: Eine Geschichte vom erwachsen Werden, vom Finden des eigenen Weges und der Über­win­dung von Wider­s­tänden, von der Offenheit, derer es Bedarf, um ein guter Darsteller zu werden, aber er wirft auch einen kriti­schen Blick auf die Methoden, mit denen in der schon zu DDR-Zeiten berühmten Schule gear­beitet wird – recht­fer­tigen Ruf des Instituts und Ergebnis der Ausbil­dung, nämlich die Tatsache, dass so gut wie alle Ernst-Busch-Absol­venten ein Enga­ge­ment bekommen, wirklich alles?

Veiel arbeitet doku­men­ta­risch, aber er scheut nicht davor zurück, auch zu insze­nieren, wenn es der Poin­tie­rung einer Situation bedarf (wie viel mehr wirkt das Bild des leiden­schaft­li­chen Gitar­risten Prodromos, der sein Instru­ment ins Leihhaus trägt, als sein Bekenntnis, sich keine Kran­ken­ver­si­che­rung mehr leisten zu können). Und warum soll auch nicht »gestellt« werden – schließ­lich geht es um Schau­spieler, und wir beob­achten sie bei ihrer Arbeit. Nicht bei jedem einschnei­denden Ereignis (wie den Prüfungen) kann die Kamera dabei sein. Zumal einige abge­wie­sene Bewerber der Doku­men­ta­tion sowie die Lehrer die Dreh­ar­beiten nicht immer unter­s­tützt haben. Aller­dings stellt sich die Frage, ob die unge­kenn­zeich­neten insze­nierten Szenen die Zuschauer nicht täuschen – schließ­lich wird das Etikett »Doku­men­tar­film« weit­ge­hend als Zeichen für die Abbildung einer (wenn auch subjektiv durch den Filme­ma­cher gefil­terten) Realität verstanden.

Das warm­her­zige Interesse und die Hoch­ach­tung, mit der Veiel seinen »Beob­ach­tungs­ob­jekten« begegnet, wird durch den ganzen Film hindurch spürbar und vermit­telt sich auch dem Publikum – ebenso wie die Ernst­haf­tig­keit und Stärke der Prot­ago­nisten. Dennoch erstarrt man nicht in Ehrfurcht, oft genug gibt es Gele­gen­heit zum Lachen. Und am Ende freut man sich über den Erfolg der vier, die einem während der sieben Jahre umfas­senden Erzählung ans Herz gewachsen sind und deren äußer­liche wie inner­liche Entwick­lung man ein wenig verfolgen durfte.

Das Leben kann ein Drama sein. Und Drama das Leben. Wahr­schein­lich muss man selber Schau­spieler sein, um sich wirklich vorstellen zu können, was das bedeutet: im Rampen­licht stehen, ausge­lie­fert sein. 36 Mal vorspre­chen, 36 Mal durch­fallen, an den verschie­densten Schau­spiel­schulen und Univer­sitäten der Republik. Und es trotzdem wieder versuchen. Spielen müssen.

Die Spiel­wü­tigen heißt so, weil man es nicht besser sagen könnte: Spielwut, Ausdrucks­ver­langen, das so grund­sätz­lich ist, dass man zwischen Begabung und Sucht, Passion und Wahnsinn nicht mehr wirklich scharf trennen kann. Heute spielt Stephanie Stremler, die 36 Mal Abge­wie­sene am Berliner Ensemble und am Kasseler Staats­theater – eine der besonders Begabten ihrer Gene­ra­tion. Stremler ist eine von vieren, die wir in Die Spiel­wü­tigen näher kennen­lernen.

Seine zwei Doku­men­ta­tionen Die Über­le­benden und Black Box BRD haben Andres Veiel bekannt gemacht. In beide Filme webte der Schwabe viel von seiner eigenen Biografie, sie waren, wie es eigent­lich alle guten Filme sind, Ausein­an­der­set­zungen des Regis­seurs mit sich selbst, und mit der eigenen Gene­ra­tion – mit jenen, die in den späten 70ern aufwuchsen, für die die bleierne Zeit des »Deutschen Herbst« 1977 zur prägenden, auch poli­ti­schen Erfahrung wurde.

Jetzt also etwas ganz anderes, jeden­falls auf den ersten Blick: Keine histo­ri­sche Rekon­struk­tion, keine ernste Politik, sondern Gegenwart pur. Ein Haufen junger Leute, so jung, dass sie fast Kinder des 1959 geborenen Veiel sein könnten. Mit 20 von 200 Kandi­daten, die sich 1996 für die Aufnahme an der Berliner »Hoch­schule für Schau­spiel­kunst« (HfS) Ernst Busch beworben haben, fing er an, 10 wurden ange­nommen, vier von ihnen beglei­tete und beob­ach­tete er über sieben Jahre lang, bis zu den ersten Enga­ge­ments.

250 Stunden Film hat er verar­beitet. Das Ergebnis ist mehr als eine Doku­men­ta­tion. Selbst Drama, höchst subjektiv ausge­wählt und in schnellen, sugges­tiven Schnitten, dann wieder langen, nicht weniger sugges­tiven Einstel­lungen rhyth­mi­siert – eine gute Doku­men­ta­tion ist immer ähnlich gemacht wie ein Spielfilm: pointiert, persön­lich, insze­niert.

Ein faszi­nie­rendes Dokument: Man sieht jungen Menschen beim Erwach­sen­werden und Sich-selbst-finden zu. Zugleich erhält man intime Einblicke in das Handwerk des Schau­spiels und die nicht immer sympa­thi­schen (und wohl auch nicht immer nötigen) Psycho­spiel­chen der Lehrer. So lässt sich Die Spiel­wü­tigen im gleichen Moment als Hymne auf einen Beruf und eine hervor­ra­gende Ausbil­dung verstehen – wie als Kritik an einer menschen­ver­ach­tenden Diszi­pli­nie­rungs­an­stalt, die offen­kundig glaubt, ihr Ziel nur erreichen zu können, in dem sie die jungen, frisch aufge­nom­menen Menschen zunächst einmal bricht, bevor dieje­nigen, die das über­stehen, dann irgend­wann als Erfolgs­be­weis der HfS herhalten müssen.

Und dadurch wird auf den zweiten Blick auch klar, was Andres Veiel an diesem Thema inter­es­siert hat. Alle seine Filme handeln vom Überleben, sind Entwick­lungs­ro­mane, basierend auf der Über­zeu­gung, dass das Extrem mehr Wahrheit zeigt als der Normal­fall. Was ist wesent­lich im Leben? Diese Frage, und der unbe­dingte Wille, eine Antwort zu finden, haben die vier Spiel­wü­tigen mit den Selbst­mör­dern, dem Banker und dem Terro­risten aus Veiels früheren Filmen gemeinsam. Denn auch das Leben ist ein Drama.