USA 2018 · 114 min. · FSK: ab 0 Regie: Jason Reitman Drehbuch: Matt Bai, Jay Carson, Jason Reitman Kamera: Eric Steelberg Darsteller: Hugh Jackman, Vera Farmiga, J.K. Simmons, Mark O'Brien, Molly Ephraim u.a. |
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Verstärkter historischer Spiegel |
»The reason why I make movies is not because I have a whole bunch of answers; I have a whole bunch of questions, and that’s why I do a movie that asks the audience similar questions. These conversations are exactly why I made that kind of film.« –Jason Reitman im Interview in Indiewire
2018 war ein gutes Jahr für Jason Reitman. Das war nicht unbedingt abzusehen, denn nach seinen Erfolgen mit Juno (2007) und Up in the Air (2009) und dem unterschätzten, aber überwiegend negativ rezipierten Generationendrama Men, Women & Children (2014) hatte Reitman sich in den letzten Jahren nur noch für die Serie CASUAL dann und wann um Regie und Produktion gekümmert und sich stattdessen mit seinen innovativen, monatlichen Live Readings von Drehbüchern im Bing Theater von Los Angeles beschäftigt. Doch mit gleich zwei Filmen meldete sich Reitman 2018 wieder zurück. Dem dichten, »doppelbödigen« Drama Tully um eine Mutter mit schizophrenen Schüben und Borderline-Störungen, und mit einer großartigen Charlize Theron in der Hauptrolle. Und einer Filmbiografie über den Spitzenkandidaten der demokratischen Vorwahlkampagne von 1987, Gary Hart.
Hart, erfolgreichster Kandidat der Demokraten gegen den damaligen und im letzten November verstorbenen Vizepräsidenten H.W. Bush, musste innerhalb einer Woche seine Träume von einer Kandidatur beenden, nachdem in der Presse Fotos lanciert worden waren, die nahelegten, dass der fest im Sattel einer Ehe sitzende Hart eine Affäre mit einer Marketingverantwortlichen einer pharmazeutischen Firma gehabt hatte. Was im ersten Moment abstrus erscheint – warum sich für ein Vorwahlfiasko der Demokraten vor über 30 Jahren interessieren? –, macht auf den zweiten Blick durchaus Sinn.
Denn Reitmans Adaption des Buches »All the Truth Is Out: The Week Politics Went Tabloid« von Matt Bai, der auch am Drehbuch beteiligt ist, legt nahe, dass die Affäre von Gary Hart (Hugh Jackman) mit Donna Rice (Sara Paxton) einen wichtigen Wendepunkt im öffentlichen Leben und in der Presselandschaft darstellte. Denn erstmals wurde hier ein Politiker nicht nur von Reportern aus »Privatgründen« observiert, sondern auch auf der Straße von Reportern bedrängt und im aufkeimenden Skandal wurde Privatleben moralisch konnotiert und mit politischem Anstand aufgewogen. Was heute selbstverständlich ist – eine Rundumüberwachung zur Sicherstellung politischer und moralischer Integrität –, war damals ein Novum. Das mag auch erklären, warum Hart die Anschuldigungen nicht ernstnahm und Donna Rice sich nicht sofort an eine für diese Fälle spezialisierte Anwaltskanzlei gewendet hat (die es schlichtweg noch nicht gab), sondern in ihr moralisches Verderben gelaufen ist und von dem Zeitpunkt an weniger als der komplexe Mensch, der sie wahr, denn als Symbol einer Sexaffäre gesehen wurde.
Diese gesellschaftliche Hinrichtung moralischer Prinzipien und menschlicher Paradigmen, das Aufheben der Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem, stellt Reitman ins Zentrum seines Films. Das für Hollywood ungewöhnliche an Reitmans Herangehensweise dabei ist, dass er weniger um die Wahrheit ringt, ob Hart die Affäre nun hatte oder nicht, ob Hart Unrecht angetan wurde oder Hart schuldig war. Vielmehr interessiert Reitman der plötzliche Wandel eines Systems, das sich aus Zufällen gespeist zu neuen Richtlinien bekennt. Reitmans Kamera und das Drehbuch verzichten deshalb weitestgehend auf differenzierte Charakterzeichnungen, sondern bohren sich in langen Einstellungen gnadenlos und hyperrealistisch in Wahlkampfveranstaltungen, Politikertreffen, ein paar wenige private Momente, die Arbeit der Wahlkampfteams, Reisen mit dem Pressekorps und die Arbeit der verschiedenen Journalisten, die bei der Verschiebung ihrer moralischen Grundsätze selbst immer wieder ins Schwimmen geraten und sie zum Teil (noch) selbstkritisch hinterfragen.
Um die Bedeutung dieses Augenblicks noch stärker zu betonen, hat sich Reitman zum ersten Mal seit Up in the Air entschieden, wieder mit physischem Filmmaterial zu arbeiten und mehr noch und in Anlehnung an Michael Ritchie-Filme wie Downhill Racer (1969) und vor allem The Candidate (1972) filmisch so vorzugehen wie es in den 1970ern Standard war. Diese leidenschaftliche Historizität macht Reitmans Der Spitzenkandidat nicht nur zu einem besonderen cinephilen Genuss, sondern verstärkt eindrücklich den historischen Spiegel, den uns Reitman hier vorhält, und die Fragen um den Wandel unserer moralischen Integrität und was dieser Wandel mit uns gemacht hat.
Doch was für uns »Zukünftige« ernüchternd sein mag, mehr noch mit dem Wissen, dass nach Fertigstellung von Reitmans Film das Geständnis des konservativen »Spin-Doctors« Lee Atwater bekannt wurde, in dem präzise beschrieben wird, wie er den Skandal damals einfädelte, ist für die Beteiligten von damals eine ganz andere Geschichte, die sogar Reitman überraschte. Als Reitman sowohl Gary Hart und seiner Frau Lee als auch Donna Rice und dem Wahlkampfteam von damals den fertigen Film vorführte, gab es von allen Seiten nur eine Reaktion – was für ein großartiger Schauspieler Hugh Jackman sei und wie unglaublich gut er Gary Hart verkörpere.