Deutschland 2012 · 91 min. · FSK: ab 0 Regie: Hanna Doose Drehbuch: Hanna Doose Kamera: Markus Zucker Darsteller: Susanne Lothar, Stephanie Stremler, Michael Kind, Oskar Bökelmann, Luis August Kurecki u.a. |
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Beziehungswirklichkeit kongenial erfahrbar gemacht | ||
(Foto: Filmfest München) |
»Ein solches Reden ist wahrhaft lautes Denken. Die Reihen der Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen nebeneinander fort, und die Gemütsakte, für eins und das andere, kongruieren. Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse.«
(Heinrich von Kleist, Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. 1805.)
Eins der unheimlichsten Kapitel, das in einer Freundschaft aufgeschlagen werden kann, ist mehr noch als das nicht geteilte Lieblingsbuch – der unerwiderte Lieblingsfilm. Als ich Staub auf unseren Herzen auf dem Münchner Filmfest sah, war ich dermaßen begeistert, dass es mir völlig unmöglich erschien, dass jemand anderer Meinung sein könnte. Ich sagte deshalb einem meiner besten Freunde, er solle sich unbedingt die letzte Vorstellung des Films auf dem Filmfest ansehen. B. verließ nicht nur seinen Arbeitsplatz früher, er lud sogar seine große Liebe C. ein, mit ihm „mein“ Glück zu teilen. Das Ganze ging fürchterlich schief. B. rief mich danach sofort an und ich war so schockiert über seine Reaktion, dass ich dieses Telefonat nur noch als diffuses Magendrücken erinnere. Nicht viel besser wurde es ein paar Tage später bei Kaffee und Gebäck, als mir B. völlige Urteilsunfähigkeit vorwarf. Das gesehene Machwerk sei derartig künstlich, aufgesetzt und unprofessionell gemacht, dass es wirklich kaum zu ertragen sei. C. habe übrigens genauso gelitten wie er. Wir sprachen nur über den Film, aber ich glaube, dass er nicht nur den Film und meine Sichtweise, sondern auch unsere Freundschaft hinterfragte. Nach Rettungsankern jeder Art greifend, gingen wir Szene für Szene des Films durch, aber es blieb dabei: was der eine versuchte zu erklären und richtigzustellen, konnte der andere nicht einmal in Ansätzen nachvollziehen. Ich versuche mich dadurch zu trösten, dass Staub auf unseren Herzen seitdem etliche Preise zugesprochen bekam und dass auf einer anderen, aber doch sehr verwandten Ebene auch ich bislang nur ganz selten verstanden habe, warum einer meiner Freunde sich für diese oder jene Freundin entschieden hat, es irgendwie immer eine Leerstelle in unseren Gegenübern und in uns selbst gibt, die überrascht und die wir wohl nie verstehen werden.
Mit dieser persönlichen Einleitung möchte ich explizit und ein wenig verunsichert darauf hinweisen, dass Hanna Dooses Staub auf unseren Herzen mehr noch als jede Komödie polarisieren kann. B. und ich sind nicht die Einzigen; was die einen lieben, scheinen die anderen zu hassen, die Grauzonen sind rar besetzt. Ob das daran liegt, dass Hanna Doose einiges anders gemacht hat? Dass sie Kleist modern interpretiert? Oder an die Thematik angelehnt: dass der Film so stark ist, dass er seine filmische Realität auf die Zuschauer überträgt und adäquate Gegenüber & Szenen, eine neue Realität erschafft?
Der ohne die üblichen öffentlichen Fördermittel in 22 Tagen gedrehte Debütfilm von Hanna Doose erzählt die Geschichte der 30-jährigen Kathi (Stephanie Stremler), die alleinerziehend in Berlin lebt und versucht als Schauspielerin ein Auskommen zu finden. So schwierig dieser Weg ist, so mühsam gestaltet sich auch ihr übriger Lebensentwurf: die Emanzipation von ihrer dominierenden Mutter, einer etablierten Psychotherapeutin (Susanne Lothar), die Neuaufnahme der Beziehung zu ihrem lange abwesenden Vater (Michael Kind) und das Eingehen einer neuen Paarbeziehung.
Diesen schwer zu zähmenden, antagonistischen und komplexen Beziehungsdynamiken begegnet Doose erfolgreich mit zwei Mitteln: den beiden eingesetzten, digitalen Fotokameras, deren Filmfunktion die Beteiligten nicht nur in den beengten Berliner Innenräumen beklemmend dicht und fast physikalisch spürbar „festhält“. Und Dialogen, die allein auf ein Treatment hin, also improvisiert entstanden sind. Dass Doose dabei auf die im jüngeren deutschen Film fast zwanghafte Bewegung zur deutschen Komödie verzichtet und sich dämlichem Ulk – wie erst kürzlich in 3 Zimmer/Küche/Bad wieder schmerzhaft neu aufgelegt – entsagt, ist dabei nur eine Kleinigkeit; der Ernst des Lebens bietet schon Groteske genug.
Nein, es sind vor allem die entstandenen Dialoge selbst, die über alles hinaus mit einer Wirklichkeit beeindrucken, die an den frühen Wenders und seinen Alice in den Städten erinnert. Doch Doose steigt mit ihren nach dem richtigen Lebensentwurf Suchenden zeitlich noch tiefer hinab und erschafft in der jüngsten Berliner Gegenwart eine atemberaubende Begegnung mit dem frühen 19. Jahrhundert und Heinrich von Kleists beschworener »allmählicher Verfertigung der Gedanken beim Reden«. Kleist hat über Selbstversuche und historische Beispiele zu erkennen geglaubt, dass die besten Ideen beim Sprechen entstehen, was wiederum am besten gelingt, wenn man eine Person öffentlich mit Fragen konfrontiert, die er spontan beantworten muss. Die dabei entstehende Konkretisierung der Gedanken, also die Idee bzw. die therapeutische Katharsis, wird durch das dabei aktivierte „Unbewusste“ begünstigt oder in Kleists Worten, durch einen gewissen „Zustand unsrer, welcher weiß“.
Diesen „gewissen Zustand“ visuell, filmisch in Dialogen in eine spannungsreiche Handlung eingebettet zu sehen, ist großes Glück. Noch größer wird es durch die Darsteller, die Doose für ihren Film hat gewinnen können. Susanne Lothar in ihrer letzten Rolle (sie starb wenige Tage nach der Münchner Filmfest-Premiere von Staub auf unseren Herzen) und Stephanie Stremler erspielen sich eine Beziehungswirklichkeit, die zusammen mit den präzisen, dichten Kameras von Markus Zucker den täglichen Alltagsvollzug kongenial erfahrbar macht. Aber damit noch nicht genug: auch die übrigen Darsteller bis hinab zum Sohn von Kathie (Luis August Kurecki) bewegen sich auf gleichem Niveau und werden dabei noch von einem Soundtrack (Beton) unterstützt, der auch den letzten Staub auf unseren Herzen hinwegfegen sollte. Was für ein Film!