Stella. Ein Leben

Deutschland/Ö/CH 2023 · 121 min. · FSK: ab 16
Regie: Kilian Riedhof
Drehbuch: , ,
Kamera: Benedict Neuenfels
Darsteller: Paula Beer, Jannis Niewöhner, Katja Riemann, Lukas Miko, Bekim Latifi u.a.
Filmszene »Stella. Ein Leben«
Nicht nur ärgerlich, da scham- und niveaulos...
(Foto: Majestic)

German TV meets Holocaust

Ein weiterer überflüssiger Beitrag zum Genre Holocaust-Filme

Die Jüdin Stella Gold­schlag hat in Nazi-Deutsch­land Juden aufge­spürt und verraten, um sich selbst und ihre Familie vor dem Tod in den Gaskam­mern zu retten. Viele Stationen ihres Lebens, auch die Rolle der Gestapo sind durch Gerichts­akten und Zeugen­aus­sagen belegt.

Doch um die Ereig­nisse volls­tändig und rund zu erzählen, haben die Dreh­buch­au­toren (Marc Blöbaum, Jan Braren & Kilian Riedhof, auch Regie) viele Szenen und Dialoge, die zwischen den gesi­cherten Ereig­nissen lagen, dazu erfunden. Quasi Malen nach Zahlen. Die Zahlen sind die gesi­cherten Ereig­nisse. Die Verbin­dungs­li­nien zwischen ihnen sind erfunden. Dement­spre­chend heißt es, der Film sei von wahren Bege­ben­heiten inspi­riert. Solange der Film sich an die Fakten hält, ist er ergrei­fend und fesselnd. Das ist Paula Beer zu verdanken. Sie meistert diese schwie­rige Rolle, obwohl das Drehbuch ihr Steine in den Weg gelegt hat.

Bei den Szenen, die die Dreh­buch­au­toren dazu erfunden haben, würde man gerne die Augen schließen. Um die pein­li­chen Dialoge nicht weiter zu hören, möchte man sich Finger in die Ohren stecken. Aber das wäre feige, wenn eine Film­kri­ti­kerin schriebe, bis Minute xy war’s schlimm. Über alles, was danach passiert, kann ich nichts schreiben. Weil Augen zu und Finger in den Ohren. Also Augen auf und die Ohren doppelt gespitzt, um begründen zu können, warum es so war, wie’s war.

Am schlimmsten sind die Nazis. Okay, keine Über­ra­schung. Durchaus über­ra­schend, sogar empörend ist jedoch, wie Nazis darge­stellt werden. Als notgeile, saufende, unge­ho­belte, Spiel­karten kloppende, unifor­mierte Schurken, denen man Bosheit und Sadismus aus der Entfer­nung mehrerer Kilometer ansieht. Selbst halb­wüch­sige Sportler rudern so ernst und bedroh­lich über einen idyl­li­schen See, als trai­nierten sie nicht für einen Ruder­wett­be­werb, sondern dafür, wer am grim­migsten gucken kann. Sehr wahr­schein­lich sollen ihre furcht­ein­flößenden Mienen Stella klar­ma­chen, wie ernst die Lage für Juden im 3. Reich geworden ist. Für wie blöd halten die Dreh­buch­au­toren ihre Prot­ago­nistin? Braucht Stella nach allem, was passiert ist, wirklich noch ein paar blonde, verbis­sene Miese­peter? Oder war die Szene für die Zuschauer bestimmt? Damit auch der letzte kapiert, dass selbst junge Deutsche im 3. Reich schon böse Nazis waren? Für wie trottelig halten die Macher des Films ihre Zuschauer?

Heere von Zeit­zeugen, Histo­ri­kern, Sozio­logen, Faschis­mus­for­schern haben unisono in unzäh­ligen Büchern und Dokus beschrieben und bewiesen: Honorige Richter und pflicht­be­wusste Poli­zisten haben, ohne mit der Wimper zu zucken, Gesetze gebrochen. Brave Fami­li­en­väter haben schlimmste Verbre­chen begangen. Selbst Massen­mörder wirkten wie ganz normale Bürger. Mitläufer sehen sowieso immer harmlos aus, also nett.
Mal kurz abgesehen von solchen allgemein bekannten Erkennt­nissen, die die Spatzen mit Laut­spre­chern von den Dächern pfeifen... Wenn die Nazis wirklich so leicht durch­schau­bare Dumpf­ba­cken gewesen wären, wie sie hier darge­stellt werden, hätte Hitlers 1.000-jähriges Reich nicht nach 12 Jahren kapi­tu­liert. Es wäre schon nach 12 Tagen kläglich in sich zusam­men­ge­fallen.

Bei der Darstel­lung der Juden wünscht man sich nicht nur, blind und taub zu sein, wie bei der Darstel­lung der Nazis. Je länger der Film dauert, desto mehr beneidet man Mili­tär­pi­loten. Sie haben im Cockpit einen fantas­ti­schen Knopf. Wenn sie den drücken, kata­pul­tiert ein Schleu­der­sitz sie ins Freie. Bei diesem Film sollten Schleu­der­sitz und Fall­schirm im Ticket­preis inklu­diert sein. In den Dächern der Kinos müssten Luken geschaffen werden, damit Zuschauer sich in Sicher­heit bringen können. Aber für eine Film­kri­ti­kerin wäre das Eska­pismus: Meine Rezension geht nur bis Minute xy. Über alles, was danach kommt, kann ich nichts schreiben, weil ich mich via Schleu­der­sitz ins Freie gerettet habe, wo ich an einem Fall­schirm sanft und sicher auf die Erde zurück­ge­sunken bin.

Also Zähne zusam­men­beißen. Tief durch­atmen. Weiter­gu­cken. Woran erkennt man Juden in deutschen Filmen? Sie sagen Mishpoke, Chuzpe, Schlamm­assel oder Schickse. Okay, kommt vor. Haben sie sonst noch irgend­welche beson­deren Merkmale oder Verhal­tens­weisen? Sie sind austausch­bare Opfer, gerne mit schwarzen Locken und verängs­tigten braunen Rehaugen hinter intel­lek­tu­ellen Nickel­brillen. Die sich unter mehr oder weniger Wehge­schrei oder Protest abtrans­por­tieren und vergasen lassen.
Zum Beispiel Stellas Vater. Der Dirigent und Komponist Gerhard Gold­schlag wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Achtzig Jahre später, im Jahr 2024, wird sein Schicksal auf das Klischee eines typischen Opfers reduziert. Spontane Zwischen­frage: Was muss man noch erleiden, um nach der Vergasung nicht in einem gut gemeinten deutschen Film verwurstet zu werden?
Stellas Mutter, Tony Gold­schlag, hat das Glück, von Katja Riemann darge­stellt zu werden. Der Schau­spie­lerin ist es gelungen, der Rolle gegen alle Dumpfheit des Drehbuchs tatsäch­lich so etwas wie Würde zu verleihen. Das ist ein Kunst­stück und ein zweiter Licht­blick neben Paula Beers Darstel­lung von Stella.

Zwei weitere Beispiele für viele Szenen, bei denen man sich via Schleu­der­sitz aus dem Kino kata­pul­tieren möchte:
Gestapo-Beamte verprü­geln Stella auf brutalste Art und Weise, bis Blut spritzt und Zähne fliegen. Die bestia­li­sche Folter dauert so lange, bis Stella verspricht, mit Rolf Isaakson (Jannis Niewöhner), einem anderen jüdischen »Greifer«, Juden aufzu­spüren und zu denun­zieren.
Dieser Gewalt­ex­zess bekommt eine weitere perverse Note durch die Frage, die auf dem Film­plakat prangt. Sie lautet keck: »Wie würdest du entscheiden?« Was ist damit gemeint? Würdest du dich zu Brei prügeln lassen, oder Juden verraten, die in Auschwitz vergast werden?
Nächstes Beispiel: Nachdem Stella und Rolf Juden an die Gestapo verraten und damit ins Gas geschickt haben, beschlei­chen Stella mora­li­sche Zweifel. Eine passende Gele­gen­heit für einen längst über­fäl­ligen Dialog, in dem man erfährt, was in diesen geschun­denen Charak­teren vorgeht. Bisher herrschten peinliche Allge­mein­plätze vor, à la: »Ich will nicht nach Auschwitz!« Schenken die Dreh­buch­au­toren den Opfern des Holo­causts auch mal einen tiefer schür­fenden Satz? Wie lösen sie Stellas Dilemma? – Mit einer Sexszene. Rolf will ficken. Jetzt. Stella hat keine Lust. Viel­leicht nicht Stimmung? Falscher Zeitpunkt? Aber durch Rolfs Gewalt – hartes Zupacken – lässt Stella sich verführen, so dass beide Spaß haben. War das ein Plädoyer für harten Sex? So geil, dass Stella und Rolf die Menschen vergessen, die sie gerade denun­ziert haben? Die während ihrer Vögelei in Viehwägen nach Auschwitz rattern? Oder bedeutet die Szene: Uns ging’s dreckig. Das Einzige was uns getröstet hat, war Sex. Aber der war geil! Oder: Stella blieb nichts anderes übrig, als Juden zu verraten und sich von Rolf durch­fi­cken zu lassen?
Wer die Gräuel des Holo­causts mit einem so unter­kom­plexen, effekt­ha­sche­ri­schen Mindset erzählt, sollte lieber blutige Splatter-Filme drehen oder Schmuddel-Pornos. Wobei Splatter-Filme und Schmuddel-Pornos einen besseren inneren Kompass haben als Stella. Ein Leben. Einfach, weil sie ehrlicher sind. Sie zeigen Gewalt und Sex ohne mora­li­schen Zeige­finger. Oder dachten die Macher des Films, Stellas Geschichte sei nicht sinnlich und drama­tisch genug? So dass sie mit Sex- und Gewalt­szenen aufge­peppt werden müsste? Damit wir uns nicht falsch verstehen. Es geht hier nicht um Vermei­dung von Sex oder Gewalt. Beides gehört zur Realität, beides sollte unbedingt gezeigt und erzählt werden. Aber wenn es in einem Film von Juden- und Nazi-Klischees wimmelt, machen es dras­ti­sche Szenen nicht besser. Im Gegenteil. Bei Sex und Gewalt sticht die dumpfe Erzähl­weise noch tiefer und schmerz­hafter ins Auge.

Immer wieder ist zu hören, bei Projekten über die Juden­ver­fol­gung im 3. Reich sprudeln öffent­liche Förder- und Fern­seh­gelder. Nach dem Motto, wir haben keine Ahnung, was wir fördern sollen, aber wenn’s für eine gute Sache ist, sind wir immer auf der sicheren Seite, juhuu!
Auf die Frage: »Warum wollten Sie als deutscher Regisseur aus Deutsch­land heraus die Geschichte einer jüdischen Greiferin in der NS-Zeit erzählen?«, antwor­tete Kilian Riedhof: »Es ist für mich ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte. Sie ist im Land meiner Vorfahren passiert. Das Schicksal der Juden in Deutsch­land ist Teil meiner Geschichte, für die ich eine Verant­wor­tung spüre. Eine Verant­wor­tung, die wächst, je älter ich werde.«
Sein Film hat ein mora­li­sches Anliegen. Bestimmte Verbre­chen sollen nicht mehr verübt werden. Nie wieder Faschismus! Nie wieder Auschwitz! Kann man dagegen etwas sagen? Natürlich, man muss es sogar. Stella. Ein Leben ist ein Beispiel für die Binsen­weis­heit: Das Gegenteil von Gut ist nicht Böse, sondern gut gemeint.

In Deutsch­land sind gut gemeinte Holocaust-Filme (Wie wär’s mit der Abkürzung GGHFs oder GuGeHoFis?) ein eigenes Genre. Wie Mystery, Western, »Romcoms« oder Krimis. Aber bei Filmen über beispiels­weise Clan-Krimi­na­lität ist es durchaus möglich, Charak­tere – egal ob gut oder böse – diffe­ren­ziert zu zeichnen. Also nicht nur platte Klischees auszu­stellen, billige Schock­ef­fekte zu erzeugen oder tränen­rei­ches Mitleid.
Der Holocaust stellt andere erzäh­le­ri­sche Heraus­for­de­rungen als ein ZDF-Krimi oder ein ARD-Tatort. Obwohl, im Vergleich sind die Charak­tere vieler Tatorte komplexer und die Dialoge realis­ti­scher als in diesem Film.

Stella. Ein Leben ist nicht nur ärgerlich, da scham- und niveaulos. Dieser und die Flut ähnlicher Filme erweisen dem Kampf gegen Anti­se­mi­tismus, Faschismus und andere aktuelle rechte Zumu­tungen einen Bären­dienst. Anstatt aufzu­klären und zu sensi­bi­li­sieren, haben sie eine abstoßende, besten­falls abstump­fende Wirkung.

Anstatt mehr über diesen Film zu schreiben, wünsche ich mir jetzt doch einen Schleu­der­sitz, der mich in ein Universum schleu­dert, in dem... oh, hier ist ja ein Knopf! ... Soll ich drücken? upps... Ich habe... Boah, geht das schnell... Ahhhhhhh....rschkalt hier oben, aber der Blick über die Stadt – suuuper!... Der Fall­schirm öffnet sich... Das Leben geht weiter...