Japan/F/E 2014 · 121 min. · FSK: ab 6 Regie: Naomi Kawase Drehbuch: Naomi Kawase Kamera: Yutaka Yamazaki Darsteller: Nijirô Murakami, Jun Yoshinaga, Miyuki Matsuda, Tetta Sugimoto, Makiko Watanabe u.a. |
||
Allgegenwärtige Wassersymbolik |
Unheilvolle Wolkengebilde thronen über der stürmischen See an der Küste Amami-Ôshimas und künden von der unberechenbaren Macht des Meeres, die Leben spendet und es auch wieder auslöscht. Ein rapider, schroffer Schnitt und die tosenden Wasser des Pazifik scheinen im Morgengrauen verstummt zu sein. Die Schächtung einer Ziege wird in Nahaufnahme gezeigt, wobei die Kamera das direkt am Strand durchgeführte blutige Ritual voller Ehrfurcht einfängt. Eine Gruppe in traditioneller südjapanischer Kleidung gewandeter, älterer Inselbewohner singt und tanzt kultisch im Takt einer Okinawa-Taiko im Mondschein und ein Junge findet einen leblosen, großflächig tätowierten Männerkörper am Strand: Schon die ersten Szenen von Naomi Kawases Coming-of-Age-Drama Still the Water künden von der Spiritualität und alles beherrschenden Naturmetaphorik, für welche die japanische Regisseurin berühmt-berüchtigt ist. Sehen die einen ihre Filme als esoterischen Kitsch voller übertrieben in Szene gesetzter Naturmystik an, schätzen Kawases Anhänger gerade ihren besonderen kontemplativ-meditativen Stil, der sowohl die Schönheit als auch die Unergründlichkeit der unzähmbaren Mächte Gaias heraufbeschwört.
In Still the Water verlässt die aus Nara stammende Regisseurin die gebirgige japanische Hauptinsel Honshû mit ihren pulsierenden Millionenstädten und begibt sich auf die weitab im Süden liegende subtropische Insel Amami-Ôshima um vom unumgänglichen Kreislauf des Lebens und der Kraft des Meeres zu erzählen, während sie zwei Jugendliche auf der Schwelle zum Erwachsenwerden begleitet. Die Mutter der 16-Jährigen Kyoko (Jun Yoshinaga) leidet unter einem tödlichen Tumor und nimmt, als zwischen den Menschen und den Göttern vermittelnde Schamanin, ihr schweres Schicksal voller Demut hin, was ihre Tochter nur schwer begreifen und nachvollziehen kann. Ihr gleichaltriger Freund Kaito (Nijiro Murakami) hat die Trennung seiner Eltern immer noch nicht überwunden und begegnet seiner Mutter mit Wut und Unverständnis, da sie sich mit anderen Männern tröstet. Während die offene Kyoko sich scheinbar schwerelos im Wasser bewegt und sich im Ozean in ihrem Element fühlt, hat der introvertierte Kaito regelrecht Angst vor der Urgewalt des Meeres, was den charakterlichen Gegensatz der sich langsam einander annähernden Jugendlichen sowie ihre unterschiedlichen Strategien im Umgang mit Problemen und Schicksalsschlägen noch unterstreicht.
„Why is it that people are born and die?“ (Kyoko)
„Hm –I don’t know (Kaito)“
„There is no reason“ (Kyoko)
Die leicht schwankende Kamera und die beiläufig-realistische Art der Dialogführung künden von Kawases Dokumentarfilmvergangenheit, die in den Gesprächen zwischen den jungen Liebenden sowie innerhalb Kyokos Familie zur Geltung kommt und diesen Szenen etwas Wahrhaftiges verleiht. Der insbesondere durch seine Arbeiten mit Regisseur Hirokazu Kore-Edas bekannte Kameramann Yutaka Yamazaki betört in Kawases jüngstem Film mit seinen wunderbaren Meeresaufnahmen und vermag es, wie schon in Nobody Knows oder Still Walking, auch in Still the Water mit seinen sanft ausgeleuchteten Bildkompositionen stimmungsvolle zwischenmenschliche Augenblicke zu kreieren, die emotional berühren. So erden die dokumentarisch anmutenden Gesprächssequenzen nicht nur das ozeanfixierte Werk, sondern erweisen sich auch als die schönsten und intimsten Momente des sich in metaphorischen Sphären und Naturmystik zu verlieren drohenden Filmes.
Die Schächtung der Ziege, Kyokos Mitfahren auf Kaitos Fahrrad sowie die Aufnahmen des Meeres und uralter Bäume wiederholen sich ein ums andere Mal und spiegeln, neben dem permanent im Hintergrund wahrnehmbaren Meeresrauschen, den unaufhaltsamen Lebenskreislauf im kleinen Rahmen des Films wieder. Mit dem jugendlichen Paar im Zentrum des Geschehens, das von den Naturgewalten des Meeres sowie heraufbeschworenen spirituellen Kräften umspült wird, ist Still the Water dabei sicherlich zugänglicher und emotional greifbarer als Kawases Filme Hanezu oder Der Wald der Trauer. Atmosphärisch bebildert, gelingt der japanischen Regisseurin ein von allgegenwärtiger Wassersymbolik dominiertes Coming-of-Age-Drama, dessen zurückgenommen-intime Momente den erforderlichen rettenden Anker innerhalb der gefährlich aufbrandenden Naturmystikflut darstellen.
Amami-Oshima heißt die Hauptinsel der Amami-Inselgruppe im äußersten Süden von Japan, mitten im Pazifik. Dort, wo das Leben etwas stehengeblieben scheint, spielt Still the Water, der neue Film der japanischen Regisseurin Naomi Kawase. Es geht darin um zwei Heranwachsende und ihre Eltern, besonders die Mütter und das Verhältnis zu ihnen. Es geht aber auch um das Leben und den Alltag in dem einfachen Fischerdorf. Der Film hat auch eine autobiographische Dimension: Naomi Kawase stammt nämlich selbst aus Amami. Bei den Filmfestspielen von Cannes war Still the Water im vergangenen Jahr gefeiert worden und einer der großen Favoriten auf die Goldene Palme, zusammen mit dem türkischen Winterschlaf, der am Ende gewann. Still the Water ist aber nicht schlechter, nur anders und weniger europäisch.
+ + +
Wellen, Meer. Das ist das erste Bild. Das zweite zeigt einen alten Mann, der eine Ziege schächtet. Die Kamera streift dann über Hügel, Schilf, wieder aufs Meer. Der Wind ist zu hören. Ein kleines Küstendorf, später wird klar: Dies ist eine Insel. Es handelt sich um das abgelegene Amami, weit im Süden von Japan. Hier ist das Leben stehengeblieben und die Moderne fern.
Die Hauptfiguren heißen Kyoko und Kaito. Ein Dialog der Blicke am Meer: »Gestern hab ich auf Dich gewartet« sagt sie, er schweigt. Mit so wenigem macht der Film alles klar: Beide sind 14, eng befreundet. Eine Jugendliebe, erfüllt von Vertrautheit. Sie hat ihn gewählt, sie ist stärker und reifer. Sie redet wenig und er redet gar nicht.
Und dann hebt der Film zum ersten Mal ab...
Kyoko taucht, minutenlang, in Schuluniform. Schwimmt im Wasser auf ein Korallenriff zu. Schwerelos; wie ein Teil der See: Nixe, Meerjungfrau. Ein magischer, genussvoller Augenblick. Danach fahren die beiden auf seinem Fahrrad gemeinsam zurück ins Dorf. Ein zweiter magischer Moment aus Wind und Tempo, weißem Sonnenlicht und schwarzen Schatten. Dann gibt es Nudeln mit Tintenfisch bei Kyokos Vater, einem Fischer.
»Ich habe keine Angst«, sagt Kyoko irgendwann. Ein Schlüsselsatz.
Es wird viel gekocht und gegessen, in diesem Film, es wird geradelt im Wind, geschwommen und getaucht, minutenlang zwischen den Korallenbänken der subtropischen Insel. Und manchmal scheinen die Menschen, vor allem die beiden heranwachsenden Hauptfiguren Kyoko und Kaito, mit der Natur ganz zu verschmelzen. Immer wieder hört man die Meeresbrandung, den ständig wehenden Wind, der das Schilf und die Bäume zum Rauschen bringt.
Dies ist ein überaus sinnlicher Film, erfüllt vom Licht der Natur, eingetaucht in ihre Farben, in leuchtendes Grün und Blau, weiß und schwarz, in Apricot und Rosé.
Es wird auch gestorben und geliebt. Naomi Kawase, die einst in Cannes die »Camera d’Or« gewann, und seitdem zu den herausragenden Filmemachern des großen Kinolandes Japan gehört, erzählt in Still the Water von grundsätzlichen existentiellen Erfahrungen.
Still the Water ist ein überaus sinnlicher Film, voll schlichter und zugleich über sich hinausweisender Schönheit, erfüllt von der Ausstrahlung dieser sehr besonderen Insel mit ihren Küsten und mit starkem Sensorium für den Kreislauf der Natur, von Leben und Tod.
Futatsume no mado, der Originaltitel, bedeutet wörtlich »Das zweite Fenster«. Das kann das Fenster zum, Erwachsenwerden meinen, den Augenblick des Abschieds von der Kindheit, den die beiden gerade durchleben. Gemeint sein kann aber auch das Fenster ins Jenseits: Denn gerade in dem Augenblick, als die 14-jährige Kyoko ihre Liebe zu ihrem gleichaltrigen Schulkameraden Kaito entdeckt, und sich eingesteht, und auch ihm bald eröffnet, da verschlimmert sich die schwere Krankheit ihrer Mutter. So sehr, dass klar wird, dass dieser Sommer des Aufbruchs auch einer des endgültigen Abschieds ist.
Die Tochter weiß es und kann es doch nicht fassen. So durchziehen den Film Gespräche über das Sterben und das Rätsel des Todes: »Warum muss man überhaupt sterben?« »Warum muss meine Mutter leiden?« »Wo ist sie, wenn ihr Körper verschwunden ist?« Sie genießen ihre letzten Tage zusammen, kosten die Momente des Lebens und der Gemeinsamkeit aus. Im Gartenhaus wird für die Mutter das Sterbebett aufgestellt. Von hier aus kann man auf einen uralten Baum blicken. Die fast zehnminütige
Szene, in der Kyokos Mutter, die man zuvor eine gute Filmstunde lang kennengelernt hat, stirbt, ist dann einer der atemberaubenden Höhepunkte dieses sowieso exzellenten Films. Umgeben nicht nur von Mann und Tochter, sondern von einer Gemeinschaft aus Dutzenden von Frauen und Männern der Insel, die singen und tanzen am Sterbebett, jahrhundertealte Rituale der Inselbewohner noch einmal leben, geht sie lachend in einen glücklichen Tod.
In erster Linie ist dies aber ein Film
über das Leben.
Eine Sommergeschichte – dies ist in erster Linie ein zurückgenommenes, ruhiges Porträt zweier Schüler, und ihres Erwachsenwerdens. Kawase zeigt das Glück der Losgelöstheit im Augenblick, die Brüchigkeit des Familiären und den Schmerz des Erwachsenwerdens – die Abschiede vom Paradies der Jugend.
Dazu gehört auch das Verhältnis beider Hauptfiguren zu ihren Müttern. Es ist ein jugendlicher Aufbruch, irgendwo zwischen Ingmar Bergmans Die Zeit mit Monika und Francois Truffauts Sie küßten und sie schlugen ihn, mit einem Hauch von Roberto Rosselini, erfüllt vom Glück des Augenblicks, der Poesie des Einsseins mit der Natur und der Melancholie der Vergänglichkeit alles Lebendigen.
Es gibt zwischen den beiden Freunden, die über den Film zu Liebenden werden, Gespräche über den Tod und die Liebe, auch über unsere Verbundenheit mit der Natur. Kaito sagt »Das Meer erschreckt mich. Es ist lebendig.« Kyoko erwidert: »Wenn man surft, dann ist dies wie ein Einswerden mit dem Meer, mit der Natur.«
Es sei wie Sex fügt sie hinzu und wir ahnen, dass beide nicht kennen, wovon sie spricht. Sie aber weiß es trotzdem.
Still the Water – übersetzt »Uns bleibt immer noch das Wasser« –, ist ein sehr berührender Film, Kino voller Poesie, zugleich über menschliche Grundsatzerfahrungen.
Der Film hat alle Tugenden des japanischen Kinos: Er ist ganz klassisch und vollkommen modern im gleichen Moment; er erzählt visuell und musikalisch, in wenigen Worten, und oft beiläufig, Beobachtungen im Vorübergehen aufnehmend. Eine ruhige, doch leicht bewegte Kamera zeigt den Wind, die Wellen, das Licht der Sonne, das durch die Bäume scheint und begleitet die Figuren schwebend, zitternd, subjektiv durch ihr Leben. Kawase erzählt vollkommen stringent und zugleich leichtfüßig und
unaufdringlich.
So gelingt ihr ein nahezu perfekter Film. Auch das Sterben macht hier keine Angst. Aus dem Mund des alten Fischers hören Kyoko und Kaito ein paar grundsätzliche Lebensregeln: »Ihr jungen Leute solltet nie feige sein! Wenn ihr was sagen wollt, sagt es. Wenn ihr was tun wollt, tut es. Wenn ihr weinen wollt, weint!«
Am Ende sieht man ein so faszinierendes wie tröstliches Bild: Kyoko und Kaito, die jetzt ein Paar geworden sind, zum ersten Mal zusammen schwimmen und tauchen. Kaito hat seine Angst vor dem Meer abgelegt. Beide schwimmen nackt, sie tauchen, immer tiefer, schwimmen ganz frei, ins Blaue hinein, in dem sie aufgehen, wie in einer Alleinheit – als ob sie die ersten Menschen wären, die an jenen Ort zurückkehren, von dem die Menschheit einst herkam. »Still the Water« eben.
Es bleibt
uns immer noch das Meer.