Kanada 2012 · 113 min. · FSK: ab 0 Regie: Sarah Polley Drehbuch: Sarah Polley Kamera: Iris Ng Schnitt: Michael Munn |
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Blick zurück auf allen Ebenen |
»Take care of all your memories. For you cannot relive them.«
– Bob Dylan, Open the door, Homer
Seit ich Sarah Polley zum ersten Mal in Atom Egoyans Exotica und Das süße Jenseits wahrgenommen habe, gehören Filme mit ihr und seit einigen Jahren auch von ihr zu meinen wertvollsten cineastischen Momenten. Der mit Egoyan ausgeprägten Suche nach der Uneindeutigkeit der Dinge hat Polley in ihren eigenen Filmen die Suche nach den Mehrdeutigkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen hinzugefügt. An ihrer Seite porträtiert eine gestandene Beziehung, die durch die Demenz eines der Partner aus dem Gleichgewicht fällt, in Take This Waltz beschäftigt Polley sich mit den emotionalen Ungleichgewichten junger Beziehungen. In ihrem neuesten, semidokumentarischen Film Stories We Tell geht Polley noch einen Schritt weiter. Sie dehnt ihre multiperspektivische Wahrheitssuche auf die eigene Familie und die Fragwürdigkeit persönlicher Erinnerungen aus.
Stories We Tell thematisiert die Beziehung von Polleys Eltern, Michael und Diane Polley, die die üblichen Kompromisse eingehen müssen, um ihre Beziehung am Leben zu erhalten. Eine dieser Kompromisse war auch eine Affäre ihrer Mutter mit dem Produzenten Harry Gulkin. Ihre Mutter ist früh an Krebs verstorben, und so erfährt Sarah von der Affäre erst, als sie ihren eigenen Zweifeln nachgibt und herausfinden möchte, ob ihre eigenen Vermutungen und Raum stehende Gerüchte wahr sind: dass ihr biologischer Vater nicht Michael Polley, sondern möglicherweise Gulkin ist.
Zu dieser filmisch begleiteten Suche nach den eigenen Wurzeln lädt Sarah Polley nicht nur ihre »beiden« Väter, sondern auch ihre Geschwister sowie Freunde aus dem Umfeld der Eltern ein, die in Interviews die Geschichten erzählen, die sie von Polleys Eltern erinnern. Diese Geschichten werden mit originalen und pseudo-originalen Super-8-Sequenzen angereichert, die ein faszinierendes Home-Movie-Kaleidoskop bilden. Originales und »nachgespieltes« Material sind dabei kaum zu unterscheiden. Damit unterstreicht Polley auch filmisch, was erzählerisch offenkundig ist. Die Erinnerungen aller Beteleigten an die Beziehung der Eltern, ihre Persönlichkeiten, unterscheiden sich immer wieder signifikant, eine wirkliche synchronisierte »Beziehungswahrheit«, das romantische Postulat unserer bürgerlichen Erziehung, gibt es nicht.
Dass diese Einsicht weder dogmatisch, anklagend oder ernüchternd wirkt, liegt vor allem an der völlig verblüffenden und berührenden Offenheit aller Protagonisten. Väter, Geschwister, Freunde und bekannte Journalisten sind nicht nur atemberaubend sympathisch, sondern verkörpern auch einen faszinierenden moralischen Ethos der Aufrichtigkeit. Einen Ethos, der es etwa einigen Journalisten, die schon vor Polleys Recherchen über die »Wahrheit« ihrer Eltern Bescheid wussten, gebot, Polley um Einverständnis zu bitten, darüber zu schreiben. Als Polley um Aufschub bat, um erst ihre filmische Suche abzuschließen, entsprachen sie ihrer Bitte. Kaum fassbar aus dem Blickwinkel unserer alles sofort nachplappernden und immer seltener hinterfragender Gegenwart. Umso mehr verstärkt Stories We Tell deshalb wohl auch regelrechte Entzugserscheinungen; das Gefühl, über den Film Teil einer neuen Familie zu sein und eine Heimat gefunden zu haben, die besser ist als die bisherige; eine, die man nicht mehr missen möchte.
Mehr noch, als der vibrierende, atemberaubende Subtext dieses zärtlichen, verstörenden, wunderschönen Films auch deutlich macht, dass erst das Sprechen miteinander, das Geschichten erzählen und das vorurteilsfreie Zuhören und Zulassen dieser Geschichten uns zu besseren Menschen macht.