D/Ö 2018 · 95 min. · FSK: ab 12 Regie: Wolfgang Fischer Drehbuch: Wolfgang Fischer, Ika Künzel Kamera: Benedict Neuenfels Darsteller: Susanne Wolff, Gedion Oduor Wekesa, Alexander Beyer u.a. |
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Wie Odysseus dem Schrecken begegnen |
Der Film beginnt mit Bildern von Affen. Es sind die Affen von Gibraltar, gewissermaßen dem Ende Europas. Es sind Affen, die in der Stadt leben, zwischen dem Alltag der Menschen. Diese Affen gibt es wirklich, aber am Beginn dieses Films wirkt das alles auch besonders eindrucksvoll. Wie ein Symbol, ein Bild des Chaos, der Anarchie und der Autonomie einer – schlechten, gefahrvollen – Natur, die sich inmitten des Menschlichen wieder Bahn bricht. Man sieht damit schon zu Beginn eine Welt, die ein bisschen aus dem Lot ist, die sich in einer erkennbaren Schieflage befindet, und in in der kleine Chaosstifter hausen.
Von Gibraltar aus bricht die Hauptfigur des Films auf und beginnt ihr Abenteuer. Sie heißt Rike, eine junge, aber nicht mehr ganz junge Frau, und offenkundig eine erfahrene Seglerin – denn sie segelt allein, einsam auf dem Meer. Ihr Ziel ist es, nach Ascension-Island zu fahren, zu jener Atlantik-Insel, die am weitesten von allen vom Festland entfernt ist. So soll dies für sie auch eine Reise zum Glück werden, zur individuellen Erfüllung.
Zunächst sind es großartige Bilder eines sonnendurchfluteten Meeres, die Regisseur Wolfgang Fischer und sein Kameramann Benedikt Neuenfels zeigen, und der Film scheint sich zu einer stillen existentialistischen Meditation zu entwickeln, mit der Verheißung eines Naturparadieses am Horizont. Selbst, als dann eines Nachts ein Sturm aufzieht, meistert Rike die Begegnung mit den Naturgewalten bravourös und unerschrocken und bleibt Herrin des Geschehens auf dem großen dunklen Meer.
Es ist etwas anderes, das diese Frau ins Mark erschüttert: Denn am nächsten Morgen nach dem Sturm begegnet sie einem vollkommen überladenen, manövrierunfähigen Schiff voller Menschen. Ein Flüchtlingsboot, das dringend Hilfe braucht. Über Funk wird ihr verboten, selbst einzugreifen. Da sie im sonstigen Leben Notfallärztin ist, steht hier für sie ganz konkret der Konflikt zwischen der moralischen Verpflichtung und der Achtung des Rechts, auch der pragmatischen Einsicht, mit ihrem kleinen Boot gar nicht alle retten zu können. Aber einen? Den Jungen, der es geschafft hat, zu ihrem Boot zu schwimmen, und den sie nicht abweisen konnte? Oder doch auch zwei, drei?
Es gibt in diesem ganzen Dilemma keine gute Antwort. Wer glaubt, dieser Film sei ein Werbefilm für Seenotrettung, oder ein Werk, das uns klarmache, dass man hier alle retten muss, der hat nichts verstanden. Dieser Film macht uns klar, dass wir aus dem Dilemma nicht rauskommen, keine Antworten auf unsere Fragen haben:
- In welchem Ausmaß können wir, der Westen, den Migranten aus dem Süden helfen?
- Sollten wir, müssen wir überhaupt helfen?
- Und, wenn ja: zu welchem Preis?
Im Mittelteil des Films erleben wir, wie Rike mit dem Jungen, der es zu ihrem Boot geschafft hat und sie bittet, den Anderen zu helfen, kommuniziert. Man erinnert sich an die Geschichte von Robinson und Freitag – und tatsächlich ist dieser Film auch eine moderne Robinsonade, eine filmische Meditation über das Alleinsein und die intensive Begegnung zweier Welten.
»Styx« heißt der Totenfluss der griechischen Mythologie, der in der antiken Vorstellung die Lebenden von den Toten trennt.
So ist diese poetische Geschichte des Abenteuers einer Ärztin, die als Alleinseglerin dem Grauen und ihren eigenen Abgründen begegnet, auch eine in phantastischen, kraftvollen, physischen Bildern grandios erzählte Höllenfahrt, der Eintritt in eine Zwischenwelt, in der es keine Sicherheiten mehr gibt.
Diese Welt ist unsere, und Fischer legt frei, was Europa geschieht, wenn es dem Chaos nicht mehr ausweichen kann. Wie Odysseus begegnet Rike dem Schrecken. Wie Odysseus ist sie
neugierig, angetrieben von einem Willen zum Wissen, aber wie Odysseus – wenn der sich an den Mast fesseln lässt, um den Gesang der Sirenen zu hören, aber doch außer Gefahr zu bleiben – bleibt immer ein Stück Distanz, die sie nicht aufgeben kann und will.
Diese Frau, kühl, reserviert, schockiert von sich selbst, steht für uns alle.
Nachbemerkung und Kritik der Kritik:
Lustig wird es, jedenfalls für Außenstehende, wenn erstmal der »Spiegel« redaktionell zusammengelegt, oder wie böse Zungen unken, »gleichgeschaltet« wird.
Dann gibt es nicht mehr solche Erlebnisse wie heute:
Da lobt im »Spiegel« (print) Martin Wolf den Film: Er stelle »die richtigen Fragen«. Er schaffe eine Situation, die zum Sinnbild wird »für alle ungelösten Fragen der Flüchtlingskrise. ›Styx‹ ist einer jener seltenen Filme, die uns Europäern zeigen, wie
wir sind – und nicht, wie wir gern sein möchten.
...
In Styx verwandelt Regisseur Fischer die aktuelle politische Debatte über das Elend an Europas Außengrenzen in eine radikale Tragödie.«
Nun aber Spiegel-Online. Matthias Dell bringt allen Ernstes den öden Robert-Redford-Schinken All Is Lost (J.C. Chandor) ins Spiel, weil er offenbar in Styx Probleme hatte, nicht einzuschlafen. Manchmal liegt das dann aber gar nicht am Film. Dell stört, dass der Film, der eine Alleinseglerin zeigt, so wenig Dialog vorsieht. Und dass auch,
als der Flüchtlingsjunge an Bord ist, nicht ausführlich gesprochen wird: »wer redet, ist nicht tot«.
Die beiden Figuren sind aber, jede auf ihre Weise am Ende moralisch tot. Darum geht’s und kein Dialog der Welt könnte diese Erfahrung abfedern.
In bemerkenswerter Abqualifizierungsrhetorik (das schöne Wort verdanke ich Lukas Stern) wird dann kurz und bündig gefolgert: »Am Ende ist Styx ein überflüssiger Film.«
Begründung: »Er
findet keinen adäquaten Ausdruck für seine ›Man muss doch etwas tun‹-Gefühle.« Genau diese Gefühle will der Film aber nicht artikulieren. Das ist sein ganzer Sinn,
Und ein Experimentalfilm wie Havarie von Philip Scheffner, den Dell als gutes Gegenbeispiel ins Feld führt, ist erstens ein Dokumentarfilm, zweitens nur Filmwissenschaftlern zu vermitteln.
Die anderen gucken ihn sich gar nicht erst an.