Stop-Zemlia

Ukraine 2021 · 122 min. · FSK: ab 12
Regie: Katerina Gornostai
Drehbuch:
Kamera: Olexander Roschtschin
Darsteller: Maria Fjodortschenko, Arseni Markow, Jana Isajenko, Olexander Iwanow u.a.
Filmszene »Stop-Zemlia«
Flaschenpost aus einer verschwundenen Zeit
(Foto: déjà-vu film)

Wenn die Welt stillsteht

Driften im eigenen Orbit: Die ukrainische Regisseurin Katharyna Gornostai erzählt in ihrem Debütfilm Stop-Zemlia von Jugendlichen aus Kiew in den Jahren vor dem Krieg

Es gibt Masha und es gibt Sasha. Sie gehen in die gleiche Schule in einem Kiewer Plat­ten­bau­viertel. Masha ist in Sasha verliebt. Sasha weiß nicht, in wen er verliebt ist, und er weiß sowieso nicht, wo er emotional, sexuell oder intel­lek­tuell überhaupt steht. Eines Tages gefällt ihm nicht nur Mashas Foto auf Instagram, sondern er beginnt auch einen Chat mit ihr. Masha glaubt natürlich sofort, dass er es ist, aber beide Figuren gehören zu unter­schied­li­chen Cliquen: sie zu einer kleinen, er zu einer großen, deren Mitglieder alle auf sehr unter­schied­liche Weise in dieses Schul-Melodrama verwi­ckelt werden.

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So könnte man diesen Film beschreiben. Die Beschrei­bung ist richtig, aber sie sagt nicht viel aus über Stop-Zemlia, denn ein Action-Film ist das nicht, vielmehr ist er durch ein Driften und Schweben, durch Unsi­cher­heit geprägt.
Man könnte für die meisten von uns, die weder Russisch noch Ukrai­nisch können, auch erzählen, dass der Titel soviel bedeutet wie »Stopp, Erde!«

Denn in gewissem Sinne befinden sich alle Figuren hier in ihrem ganz eigenen Orbit, im Weltraum; sie schweben wie Himmels­körper, wissen nicht, wohin sie gehen, haben keine Kontrolle über sich selbst, sondern gehorchen ganz konkret den Newton'schen Gravi­ta­ti­ons­ge­setzen ebenso wie der Rela­ti­vi­täts­theorie von Einstein.
Dies wird durch eine sehr bezau­bernde Szene im Kosmo­nau­ten­mu­seum ange­deutet.

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Dies ist kein üblicher Coming-of-Age-Film. Es ist ein lässiger, leichter Film. Ein Film, der bezaubert und bezaubern will.
Die 1989 geborene ukrai­ni­sche Dreh­buch­au­torin und Regis­seurin Kateryna Gornostai erzählt in ihrem Spiel­film­debüt Stop-Zemlia mit bemer­kens­werter Sensi­bi­lität rund um ihre Haupt­figur gleich von einer ganzen Handvoll Jugend­li­cher zwischen Pubertät und Erwach­sen­werden. Sie tut dies virtuos; sie tut dies charmant; sie tut dies einfalls­reich. Stop-Zemlia ist ein stilis­tisch unge­wöhn­li­cher Film, der doku­men­ta­ri­schen Realismus mit phan­ta­sie­vollen träu­me­ri­schen Passagen verbindet. Die Regis­seurin inter­es­siert sich für ihre Figuren, als wären sie nicht ausge­dacht, sondern wirklich, real. Durch ihren Blick lernen wir diese Figuren kennen und begleiten sie ein Stück weit durch ihr Leben.

Dieser Film ist nicht als großes Drama, Plot-Point-gesteuert von A nach B und von dort nach C springend erzählt, sondern sanft, beob­ach­tend, frag­men­ta­risch und von großer Zärt­lich­keit.

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Stop-Zemlia versteht es immer wieder, sein Publikum zu über­ra­schen. Es gelingt der Regis­seurin, ihre Figuren in jenem beson­deren Moment des Lebens zu zeigen, in dem man sich selbst und der Welt ein Rätsel ist, in dem man hofft und Sehnsucht hat nach etwas Großem in der Ferne. In dem man sich selbst Monat für Monat ein bisschen mehr erschafft.

Gornostai lässt scheinbar mühelos dieses univer­selle Gefühl des Erwach­sen­wer­dens und des Übergangs von der Jugend zum Erwach­sen­sein auf der Leinwand wieder­auf­er­stehen.

Dies ist also kein üblicher Coming-of-Age-Film. Mit viel Mut erzählt Gornostai einfach das, was sie inter­es­siert, ohne auf Erwar­tungen und Vorschriften des Film­be­triebs und der Drama­tur­gie­po­lizei Rücksicht zu nehmen – dabei voller Neugier und Kenntnis im Verhältnis zur Film­ge­schichte.

Sehr leicht entdeckt man diese Film-Bezüge, die – in der heiteren Grund­stim­mung und Leich­tig­keit – von der Nouvelle Vague der Franzosen bis zum ameri­ka­ni­schen Inde­pen­dent-Kino einer Sofia Coppola oder eines Harmony Korine reichten, von denen sich die Regis­seurin zu einer ganz impres­sio­nis­ti­schen, atmo­sphäri­schen Kamera anregen ließ.

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Ähnlich wie Coppolas Filme weckt Stop-Zemlia bei manchen Beob­ach­tern erstaun­liche Aggres­sionen: Von »wohl­stands­ver­wöhnten Charak­teren« konnte ich über diese Plat­ten­bau­kinder lesen, von »stylisch tristem Setting« und »komfor­ta­bler Coolness«, von »Substanz­armut«. Man kennt sowas aus Coppola-Rezen­sionen: Den Vorwurf des Verträumten und der Lethargie.
Aber dies ist ein Film über das Erwach­sen­werden. Nur dass dieses hier nicht eine Rite de Passage à la Hollywood bedeutet, und auch nicht, mit festem Fuß uner­schüt­ter­lich auf dem Boden zu stehen, und sich den Prüfungen des Lebens mit einem stäh­lernen Blick zu stellen. Das Erwach­sen­werden ist bei Katharyna Gornostai eine Fort­set­zung der Flucht.

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En passant eröffnet dieser Film uns im Westen auch ganz neue Perspek­tiven auf die Ukraine, dieses für uns immer noch sehr fremde ferne Land, das uns auf diese Weise über­ra­schend nahe rückt.

In diesem Film ist es ein Land ohne jeden Natio­na­lismus, ein Land, das dem Westen wirklich zugewandt ist, in dem es keine Korrup­tion gibt, keine Olig­ar­chen, und natürlich auch keinen Krieg – denn dieser Film ist im Jahr vor dem Ukraine-Krieg entstanden.

Es ist ein Land, das heute leider schon verschwunden ist – insofern ist dieser Film heute auch sehr traurig: eine Flaschen­post aus einer für immer verlo­renen Zeit.

Warum ist es so schwer, erwachsen zu werden?

Der ukrainischen Regisseurin Kateryna Gornostai gelingt mit Stop-Zemlia ein einfühlsamer Coming-of-Age-Film über drei ukrainische Teenager auf der Suche nach einem angemessenen Platz im Leben

Vor zwei Jahren gewann das Spiel­film­debüt Stop-Zemlia der ukrai­ni­schen Regis­seurin Kateryna Gornostai bei der Urauf­füh­rung auf der Berlinale den Gläsernen Bären der Jugend­jury in der Sektion Gene­ra­tion 14plus. Wenn der sehens­werte Film jetzt endlich in die deutschen Kinos kommt, sieht man ihn mit anderen Augen. In dem einfühl­samen Coming-of-Age-Film spielen die damaligen, immer wieder aufflam­menden Kämpfe im Donbass nur eine marginale Rolle: Einmal schaut eine Schülerin auf einem Laptop Aufnahmen aus einem Schüt­zen­graben, in dem Schüsse zu hören sind, ein anderes Mal üben Schüler das Zerlegen von Gewehren und das Schießen, zum Dritten wird der Schüler Senia plötzlich vom trau­ma­ti­schen Flashback an einen Aufent­halt im Kriegs­ge­biet heim­ge­sucht.

Ansonsten sind die jungen Prot­ago­nisten, die die vorletzte Klasse eines Gymna­siums in Kiew besuchen und sich Gedanken über ihre beruf­liche Zukunft machen, mit typischen Problemen von Teenagern beschäf­tigt: erste Liebe, Konflikte mit den Mitschüler*innen und Eltern, Unsi­cher­heit und Orien­tie­rungs­suche. Gespielt werden die Figuren von enga­gierten Laien­dar­steller*innen, denen Gornostai auf der Basis eines rudi­men­tären Drehbuchs viel Raum zum Impro­vi­sieren ließ. Was offenbar zu der lebens­echt wirkenden authen­ti­schen Darstel­lung der Jugend­fi­guren führte und damit der Insze­nie­rung eine erstaun­liche Authen­ti­zität verleiht. Gleich­wohl fragt man sich ange­sichts des russi­schen Angriffs­krieges gegen die Ukraine, der vor fast einem Jahr begann: Was machen diese Teenager heute? Leben sie noch? Kämpfen sie an der Front? Sind sie ins westliche Europa geflohen? Wäre so ein Film heute noch machbar?

Doch zurück zu Masha und ihren Freunden. Die 16-Jährige ist fein­sinnig und intro­ver­tiert. Sie hängt oft mit ihren besten Freunden Yana und Senia ab, die manchmal sogar bei ihr über­nachten. Während Masha oft nur beiläufig dem Schul­un­ter­richt folgt – im Biolo­gie­un­ter­richt geht es gerade um die physi­schen Merkmale von Stress –, denkt sie oft an ihren hübschen Klas­sen­ka­me­raden Sasha, in den sie verliebt ist. Doch sie traut sich nicht, ihm ihre Gefühle zu zeigen, und er scheint sie nicht zu bemerken oder will es nicht.

Zwischen­durch tauscht sie über Instagram poetische Chats mit einem Unbe­kannten aus, von dem sie hofft, dass es Sasha ist. Überhaupt: Smart­phones sind allge­gen­wärtig. Soziale Medien spielen für diese Groß­stadt­ju­gend­li­chen eine eminente Rolle: Selbst wenn Masha, Yana und ihr Kumpel Senia neben­ein­ander im Bett liegen, schaut jede(r) auf das eigene Handy. Dabei entwi­ckelt Senia immer mehr Gefühle für Masha, will aber die tiefe Vertraut­heit mit ihr und auch Yana nicht aufs Spiel setzen. Wie sehr die Prot­ago­nistin mit sich und ihrem Leben hadert, wird in traum­haften Sequenzen ange­deutet, in denen sie etwa in einem dunklen Thea­ter­saal in blauem Licht mit einem Unbe­kannten Badminton spielt oder nachts in ihrem Zimmer zu lauter Musik wild umher­tanzt.

Stop-Zemlia weist nur eine rudi­men­täre Handlung auf. Zwischen Frühstück, Schul­stunden, Abhängen, Flirts, Partys und dem titel­ge­benden Blinde-Kuh-Spiel passiert nichts Spek­ta­kuläres. Schwere Konflikte und drama­ti­sche Zuspit­zungen fehlen ebenso wie starke Anta­go­nisten. Allen­falls der schüch­terne Sasha hat es schwer mit seiner allein­er­zie­henden Mutter, die ihn zu Klavier­stunden schickt und mit ihrer über­trie­benen Fürsorge nervt und einengt.

Dass die 1989 im ukrai­ni­schen Lutsk geborene Dreh­buch­au­torin und Regis­seurin vom Doku­men­tar­film kommt, lässt sich nicht übersehen. Nicht nur folgt Gorno­s­tais Stamm­ka­me­ra­mann Oleksandr Roshchyn meist mit der Hand­ka­mera den Haupt­fi­guren überall hin und bleibt nah dran wie in einer Reportage. Vor allem aber wirken die Inter­views, zu denen Gornostai ihre Prot­ago­nist/innen immer wieder vor die Kamera holt, geradezu semi­do­ku­men­ta­risch. Darin äußern sich Masha und ihre Mitschüler/innen zu sehr persön­li­chen Fragen wie »Was wirst du als erstes nach der Schule tun?« oder »Wie fühlt sich dein Körper an, wenn du verliebt bist?« Dabei bleibt auf eine reizvolle Weise in der Schwebe, inwieweit die Befragten als Figuren antworten oder als Privat­per­sonen. Indem die Interview-Einschübe die filmische Illusion durch­bre­chen, öffnen sie für die Zuschau­enden zugleich einen anre­genden Refle­xi­ons­raum.

So einfühlsam Gornostai die Gefühls­auf­wal­lungen und Verun­si­che­rung, Desori­en­tie­rung und Welt­schmerz, Lange­weile und Sinnsuche der Teenager auch erfasst, es schlei­chen sich bei einer Laufzeit von zwei Stunden auch einige Längen ein, etwa bei den Exkur­sionen in unbe­deu­tende Neben­hand­lungen. Zudem versäumt sie es, ange­ris­sene Motive zu vertiefen und so den Charak­teren mehr Tiefen­schärfe zu geben. So würde man gerne mehr erfahren über die Schwere der depres­siven Schübe, von denen Yana einmal spricht, und auch über die myste­riöse Therapie, die Masha auf Vorschlag ihrer Mutter wieder aufnehmen sollte. Und auch inter­es­sante Neben­fi­guren wie Sasha und seine verbit­terte Mutter bleiben leider zu sche­men­haft, sie hätten mehr Aufmerk­sam­keit verdient. Gleich­wohl legt Gornostai hier eine Talent­probe vor, die neugierig macht auf ihr nächstes Werk.