Indien/F 2014 · 85 min. · FSK: ab 12 Regie: Partho Sen-Gupta Drehbuch: Partho Sen-Gupta Kamera: Jean-Marc Ferrière Darsteller: Adil Hussain, Tannishtha Chatterjee, Ashalata Wabgaonkar, Gulnaaz Ansari, Esha Amlani u.a. |
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Abtauchen in Mumbai |
Immer wieder erreichen uns Horrormeldungen von misshandelten und ermordeten Frauen in Indien. Weniger bekannt ist, dass auf dem indischen Subkontinent Jahr für Jahr auch über 100.000 Kinder verschwinden, wobei die Dunkelziffer deutlich höher liegen könnte.
Partho Sen-Guptas surrealer Neo-Noir Sunrise ist zentriert um die Figur des in den Vororten vom Mumbai lebenden und arbeitenden Inspektors Joshis (Adil Hussain), dessen kleine Tochter vor zehn Jahren verschwunden ist. Sein tiefes Trauma bricht gerade in seinem Job immer wieder deutlich hervor, da Joshi dort häufig mit den vermissten Kindern anderer Eltern befasst ist. Immer mehr vermischen sich für Joshi traumatische Erinnerungen, Alpträume, das reale nächtliche Mumbai und seine mal paranoiden, mal Erlösung verheißenden Fantasievorstellungen.
Ähnlich, wie kürzlich in dem deutschen Drama Kafkas Der Bau zeigt der indische Filmemacher Partho Sen-Gupta in seinem Thriller Sunrise einen dunklen Trip eines Protagonisten, dem die Realität immer mehr zu entgleiten beginnt. Im Gegensatz zu Kafkas Der Bau ist in Sunrise jedoch deutlich, dass nicht die Umgebung sich tatsächlich verändert, sondern dass Joshi immer häufiger halluziniert. Doch entsteht im Verlaufe der Handlung ein immer stärkerer faszinierender Sog, da man sich als Zuschauer nie ganz sicher sein kann, auf welcher Realitätsebene man sich gerade befindet.
Anders als beispielsweise im konventionellen Hollywoodkino kennzeichnet Sen-Gupta Realitätsverschiebungen wie Traumsequenzen nicht dadurch, dass er jene durch Mittel, wie Weichzeichner oder eine auffallend abweichende Farbgebung klar als außerhalb der Alltagsrealität befindlich kennzeichnet. Stattdessen geht Sen-Gupta auf so schlichte, wie effiziente Weise, wie Luis Buñuel vor. Die nicht vorhandene Markierung von Träumen und Fantasien erlaubte dem Spanier in Filmen, wie Belle de Jour (1967) die verschiedenen Wirklichkeitsebenen Im Finale bis zur Ununterscheidbarkeit zu verschmelzen und in Der diskrete Charme der Bourgeoisie (1972) jemanden aus dem Traum im Traum einer anderen Person aufwachen zu lassen, ohne dass der Zuschauer vorher wissen konnte, welches Spiel hier gerade mit ihm getrieben wurde.
Neben seiner subtilen Verschmelzung verschiedener Wirklichkeitsbereiche ist Sunrise gekennzeichnet durch die gelungene Schaffung einer sehr eigenen Atmosphäre. Der gesamte Film spielt bei Nacht; sämtliche Außenaufnahmen zeigen den finsteren indischen Moloch Mumbai bei strömenden Regen. Dies erinnert an die Darstellung von Tokio in Shinya Tsukamoto gleichfalls surrealen Drama A Snake of June (2002). Im Gegensatz zu Tskukamotos monochromatisch in ein kaltes Blau getauchten Tokio, taucht die künstliche Beleuchtung Mumbai zumeist in ein goldenes Licht. In Kombination mit dem vielen Schwarz der dunklen Straßen entsteht ein Eindruck, der an ein Gemälde des Malers Max Beckmann erinnert. Wie bei Beckmann überhöht Sen-Gupta auf diese Weise seine Szenerien fast ins Mystische hinein.
Dies bedeutet, dass bereits die Alltagsrealität in Sunrise alles andere, als alltäglich erscheint und stattdessen Mumbai – wie es Joshi erscheint – zu einem mysteriösen Ort voller dunkler Geheimnisse wird. Das Subjektive an Joshis Wahrnehmung wird zusätzlich dadurch betont, dass immer wenn Joshi seinen persönlichen Obsessionen in Gestalt von ihn quälenden Geistern der Vergangenheit erliegt das experimentelle und hyperreale Sounddesign von Eryck Abecassis zu einem bedrohlichen Dröhnen anschwillt.
Inszenatorisch besonders hervorgehoben sind die Szenen, die in einem vermutlich illegalen Nachtclub spielen. In diesem Etablissement tritt eine Gruppe Kindfrauen als verführerisch singende und tanzende Lolitas vor den überwiegend aus lüsternen älteren Herren bestehenden Gästen auf. Diese Szenerie erinnert in ihrer perversen Schönheit stark an eine analoge Szene in David Lynchs Psycho-Noir Blue Velvet (1986). In jener singt Isabella Rossellini als Nachtclubsängerin Dorothy Vallens das titelgebende Lied, während Dennis Hopper als der ihr in einer sadomasochistischen Beziehung verbundene psychopathische Gangster Frank Booth im Publikum sitzt und auf ein Stück blauer Seide beißt. Sen-Gupta verzichtet zwar weitestgehend auf offene sexuellen Anspielungen. Aber dadurch, dass die lolitahaften Sängerinnen in ihren glitzernden Kostümen von der Bühnenbeleuchtung in immer wechselnde faszinierend-schöne Lichter getaucht werden, während auf der Tonspur ihr Gesang leicht entrückt verzerrt zu hören ist, ist deutlich, wie stark diese Mädchen auf das männliche Publikum wirken.
Kein Wunder, dass gerade an diesem Ort bei Joshi alle Sicherungen durchbrennen. – Zumindest in seiner Fantasie. – Jedenfalls ist Sunrise ein faszinierendes Stück Kino.