Frankreich/Mexiko/S 2021 · 82 min. · FSK: ab 12 Regie: Michel Franco Drehbuch: Michel Franco Kamera: Yves Cape Darsteller: Tim Roth, Charlotte Gainsbourg, Henry Goodman, Samuel Bottomley, Iazua Larios u.a. |
||
Augen zu und durch | ||
(Foto: Ascot Elite) |
Vorweg eine Sache: Die Tagline Geheimnisse in Acapulco sollte bitte nicht beachtet werden. Viel zu leicht könnte man bei Michel Francos Sundown einen abenteuerlichen Krimi erwarten. Doch dieser Film ist viel schwerer einzuordnen. Das Geheimnisvolle an ihm ist im Grunde die Handlung selbst. Oder besser gesagt, die Hauptfigur, die sich in ihr bewegt.
Die Zeichen stehen erst einmal auf Sonnenschein. Neil (Tim Roth) verbringt den Urlaub mit seiner Schwester Alice (Charlotte Gainsbourg) und deren jugendlichen Kindern (Albertine Kotting McMillan und Samuel Bottomley) in einem Luxushotel Acapulcos. Es wird nicht viel gemacht, Sonne getankt und getrunken. Dann kommt aus dem heiteren Himmel jedoch die Schreckensnachricht: Die Mutter ist gestorben. Alice befindet sich am Rande des Nervenzusammenbruchs, Neil hingegen ist von dieser Botschaft eher leicht verstört. Auch als er am Flughafen bemerkt, dass er seinen Reisepass offenbar im Hotel liegengelassen hat, ist sein Ärger nicht gerade überzeugend. Die aufgebrachte Familie muss also ohne ihn die Rückreise antreten. Und was macht Neil? Der checkt, kaum allein gelassen, in ein anderes Hotel ein und setzt seinen Urlaub fort.
Was soll das nun alles? Es wäre mehr als verständlich, Neil unter die unsympathischsten Figuren des jüngeren Kinos zu stellen. Aber wären doch die Motive genauso klar zu verurteilen wie die Tat. Neil hängt den ganzen Tag am Strand herum, köpft ein Bier nach dem anderen, scheint dabei aber nicht den geringsten Anflug von Spaß zu verspüren. Auch sein Anbandeln mit der Kioskbesitzerin Berenice (Iazua Larios) scheint weniger der Abenteuerlust zu entsprießen als dem Umstand, dass es sich eben anbietet. Die Entspannung hat im Großen und Ganzen mehr die Züge reiner Lethargie. Auch als am Strand Schüsse fallen, ist das kein Grund für allzu viel Panik. Neil erinnert in gewisser Weise an Albert Camus' »Fremden«, der sich ohne viel Beteiligung in den Lauf der Dinge einfügt und aus unklaren Beweggründen handelt. Und hat nicht auch der den Tod seiner Mutter mit einer verstörenden Gleichgültigkeit aufgenommen?
Michel Franco inszeniert Sundown mit einer Langsamkeit, die eine subtil-unheimliche Stimmung erzeugt. Die Geschichte scheint auf keinen klaren Punkt zuzulaufen, Ansätze zu einer Lösung werden über lange Zeit nicht aus dem Sand gehoben. In den Telefonaten mit seiner Schwester lügt sich Neil immer neue Gründe zurecht, die seinen Rückflug unmöglich machen. Als sie dann plötzlich leibhaftig vor ihm steht, scheint sich der Vorhang zu lichten. Doch auch der weitere Verlauf lässt nur Vermutungen zu. Vor was hat Neil Angst? Was in seiner Heimat ist der Auslöser für seinen wahnwitzigen Aufenthalt? Am Ende vielleicht sogar das massive Erbe, das seine Mutter hinterlassen hat? Vielleicht hat er sich auch einfach nur so vom vermeintlichen Paradies einlullen lassen, dass er sich für den endlosen Urlaub entschieden hat. Die brutale Kriminalität direkt vor der eigenen Nase kann man ja getrost übersehen, die Einheimischen schaffen es doch schließlich auch. Tim Roth schafft es wunderbar, die Rätselhaftigkeit des Charakters mit seinem Schauspiel umzusetzen. Durchgehend verkörpert er eine seltsame Mischung aus Egoismus, Zerbrechlichkeit und dem Versunkensein in etwas, von dem der Zuschauer nicht einmal eine annähernde Ahnung hat.
»Geheimnisse in Acapulco« trifft es dann im Endeffekt doch ganz gut. Selbst die Auflösungen – wenn sie denn welche sind – beantworten nicht alle Fragen. Auch wenn hier über die weitesten Strecken nicht viel passiert, Michael Franco erzählt das alles mit einer Spannung, die allein durch seine Hauptfigur getragen wird. Wenn dann doch mal etwas geschieht, dann nimmt man es fast schon von selbst mit ihren Augen auf und stuft es als bloße Nebensache ein. Sundown ist ein Film, der sein Publikum fordert, der es wirklich dazu anleitet, am Ball zu bleiben.
Ein blasser Mann mittleren Alters sitzt in sich zusammengesackt auf einem wackligen Plastikstuhl. Wir sind an einem sicherlich sehr schönen Strand in Acapulco, von dem man allerdings nicht viel sehen kann, vor lauter geschäftiger Freizeitgestaltung um den schlummernden, tief entspannten Sitzenbleiber herum. Neben ihm in einem Kübel lagern einige leere Bierflaschen, die ihn durch den Tag begleitet haben. Der Mann bewegt sich wohl schon seit ein paar Stunden nicht von Ort und
Stelle. Gleichmäßig vergräbt das Meer Welle für Welle seine Füße mitsamt seiner Birkenstocksandalen immer tiefer im Sand.
Ihn scheint das alles nicht zu kümmern. Er möchte einfach nur hier sitzen.
Noch vor ein paar Stunden – oder sind bereits Tage vergangen? – lag der Mann, Neil (Tim Roth), mit seiner Familie zusammen in einem abgeschiedenen Luxus-Resort am Privatpool – weit von dem turbulenten Strand mit seinem windigen Plastikstuhl entfernt. Dann stört ein Anruf den gemütlichen Urlaub, ein Todesfall ruft die Familie zurück nach Europa. Neil bemerkt erst am Flughafen, dass er seinen Ausweis in der Ferienunterkunft vergessen haben muss. Er verspricht, mit
einem späteren Flug seiner Familie nachzureisen.
Doch nun sitzt er hier, am Strand, allein, auf dem Plastikstuhl.
Sundown ist bereits die zweite Zusammenarbeit von Michel Franco und Tim Roth. Kennengelernt haben sich der Regisseur und der Schauspieler in Cannes. Roth zeichnete als Präsident der »Certain Regard«-Jury Francos Film Después de Lucía aus und bewarb sich gleich um eine Rolle in dem nächsten Film des damals noch recht unbekannten Filmemachers.
2015 drehten die beiden Chronic, einen erbarmungslos schmerzhaften
Film über einen Palliativpfleger, den die Schicksale seiner Patienten schier zerreißen.
Mit Sundown widmen sich Franco und Roth nun erneut einer Figur, die einen Weg sucht, um mit ihrer Trauer umgehen zu können.
Eine Ähnlichkeit der Protagonisten in Chronic und Sundown ist nicht von der Hand zu weisen. Krankenpfleger David stürzt sich in Chronic in zunehmend unangebrachtere Beziehungen zu seinen Patienten. Immer im Wissen, dass diese den Umständen geschuldet nur von kurzer Dauer sein können. Er weiß, wie sie enden werden, wie sie enden müssen und hat so eine Kontrolle über sein und ihr (Gefühls-)Leben, während er
gleichzeitig wie ein Tourist in fremde Familien einbricht und sich mit seiner direkt übergriffigen Empathie aufdrängt.
Tourist Neil in Sundown andererseits wählt als Ventil seiner Trauer die vermeintlich totale Apathie. Er sitzt und schlurft und trinkt und sitzt. Immer zusammengesackt, als wäre jegliche Anspannung aus seinem Körper entschwunden, als fände er in der Apathie die absolute Entspannung.
Im gleichen Maße, wie den Zuschauer Davids selbst
auferlegte, nimmer endende Trauer zermürbt, blickt man perplex auf den wortkargen Neil.
Wer ist dieser Mensch und wie kann er es wagen, so einfach mir nichts, dir nichts, ohne ein Wort seiner Familie, und mit ihr seiner gesamten Welt, zu entfliehen?
Man kann den Blick nicht von Neil abwenden und sucht in jeder noch so kleinen Geste, jedem angedeuteten Wechsel in der Mimik nach Anhaltspunkten, die einem die Figur – wenn schon nicht erklärt – zumindest näher bringt.
Dass man seine Faszination mit der Figur bis zum Ende nicht abschütteln kann, ist zweifelsohne dem Schauspiel Roths geschuldet. Was im Film so gelassen, direkt improvisiert wirkt, tarnt doch nur die meisterhafte Präzision und absolute Kontrolle, mit
der Roth Neil Gestalt gibt.
Zwischen Regisseur und Hauptdarsteller herrscht ein Verständnis, wie sie möglichst wortlos ihre Geschichte erzählen wollen.
Nicht selten genügen in Francos Filmen ein schnell dahingesagtes Wort oder eine vermeintlich beiläufige Geste, um die Wahrnehmung des Publikums in eine andere Richtung zu schubsen. Dabei geht es nie darum, ein möglichst vertracktes Puzzlespiel zu entwerfen, das die Zuschauer entschlüsseln sollen. Es handelt sich nicht um klassische Plot-Twists, die einen
aus dem Nichts überfallen.
Vielmehr ist es eine enorme Gabe für die genaue Beobachtung von Menschen, die in ihrem bloßen Sein von ihrem Leben erzählen. Wie im realen Leben fällt einem davon ein Teil auf und ein anderer entgeht einem komplett.
Aus dieser Beobachtungsgabe schöpft sich auch der sehr trockene Humor des Films. Verstößt doch das Verhalten dieses unmöglichen Mannes auf seine unaufgeregte Art und Weise so gegen alle Konventionen im Umgang mit seinen Mitmenschen oder Situationen, die noch so ungewöhnlich sein können.
Doch schon Loriot wusste, dass die Welt einen Mann nicht einfach so hier sitzen lassen kann.
An eben dem Strand, an dem gedreht wurde, verbrachte Franco als Kind seinen Urlaub mit den Eltern. Er weiß, was es bedeutet, wenn ein reicher, weißer Europäer wie Neil sich wie selbstverständlich an dem Strand breit macht, während sich um ihn herum die Bevölkerung mit kleineren und größeren Gaunereien gerade so über Wasser hält. Diese berechtigte Kritik an ausbeuterischem Kapitalismus unterspült den gesamten Film, bleibt hier allerdings weniger offensiv anklagend als in Francos letztem Film New Order. Er vermengt sie sogar mit kleinen, fantastischen Elementen, die man so bisher nicht in seinem Werk kannte.
Während des Drehs trug der Film den Arbeitstitel Driftwood / Treibholz – ein ziellos auf offenem Gewässer hin und her schwappendes Stück Holz, das früher oder später an einen Strand gespült wird und dort als ein Fremdkörper einfach liegen bleibt. Damit wäre die Gleichgültigkeit und arrogante Selbstzufriedenheit Neils besser beschrieben als mit einem finalen Sonnenuntergang.
Die warme Meeresbrandung lässt Neils Füße immer tiefer im Sand versinken. Fast hat man den Eindruck, früher oder später wird diese gesamte Gestalt einfach klag- und wortlos weggeschwemmt werden. Zwei, drei Wellen noch, dann ist auch sein letzter Fußabdruck von dieser Welt verschwunden. Ein Aussteiger, der sich mitten in den größten Trubel zurückzieht. Oder ist er doch ein herzloser Soziopath? So oder so gesteht man sich insgeheim vielleicht sogar einen gewissen Neid ein, wie Neil da einfach so sitzen kann.