Kanada 2021 · 130 min. · FSK: ab 12 Regie: Barry Levinson Drehbuch: Justine Juel Gillmer Kamera: George Steel Darsteller: Ben Foster, Billy Magnussen, Vicky Krieps, Peter Sarsgaard, Saro Emirze u.a. |
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Schattenboxer | ||
(Foto: Leonine) |
Unter den unzähligen individuellen Geschichten aus der Shoah ist die von Harry Haft eine der ungewöhnlichsten. Geboren 1925 im polnischen Belchatow und aufgewachsen als Herzko Haft, kam er mit seiner ganzen jüdischen Familie 1941 in deutsche Vernichtungslager, zeitweise auch nach Auschwitz. Dort fiel er einem SS-Wachoffizier wegen seiner körperlichen Stärke auf, wurde von ihm protegiert und über Umwege zum Boxer ausgebildet. Zur Unterhaltung der Deutschen – und um zu überleben – musste er in Kämpfen auf Leben und Tod gegen zahlreiche Mitgefangene boxen. Auf diese Weise überlebte er auch schlimmste Erfahrungen bis 1945, als Haft bei einem der berüchtigten »Todesmärsche« in Böhmen die Flucht gelang. Über Umwege kam er nach New York, wo er 1949 eine Profiboxkarriere begann. Bis zu seinem Tod 2007 versuchte er, mit den traumatischen Erinnerungen fertigzuwerden, die ihn nicht losließen.
Barry Levinsons Film The Survivor setzt im Jahr 1963 ein: Ein älterer Mann steht am Strand von Miami, er ist spürbar unruhig, von etwas Unaussprechlichem heimgesucht. Dann denkt er zurück, seine Gedanken springen in das Jahr 1941, das Bild wird Schwarzweiß und er ist wieder der Jüngling in Polen, der »sein Leben vor sich hat« und kurz darauf Zeuge der Deportation seiner Freundin Leah wird. Seitdem hat er sie nicht mehr gesehen... Man erschreckt, weil in diesem
Augenblick die Vergangenheit entsetzlich nahe rückt, weil man begreift, dass der ältere, müde aussehende Mann am Strand von Florida noch keine 40 Jahre alt ist.
Es sind solche Szenen, bis an die Grenze zum Melodramatischen inszeniert, und die starken emotionalen Erfahrungen, die sie auslösen, die diesen Film sofort prägen. Durch sie versteht man unmittelbar Schicksal und persönliche Last der Hauptfigur.
Im Folgenden erzählt The Survivor seine Handlung parallel auf drei Zeitebenen: Die in Schwarzweiß gehaltenen Jahre im KZ, die Zeit seiner Boxerkarriere zwischen 1949 und Mitte der Fünfziger, deren Höhepunkt ein Boxkampf mit dem legendären Rocky Marciano wird, und eben der Sommer 1963.
Im Zentrum steht die Boxerlaufbahn. Levinson bettet seine Hauptfigur in das Milieu von Brighton Beach, Brooklyn, in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein. Der von osteuropäischen Einwanderern geprägte Stadtteil ist nun auch von zahlreichen Shoah-Überlebenden bevölkert, von denen viele mit ihren schrecklichen persönlichen Erlebnissen und dem Verlust der ganzen Familie fertigwerden müssen. Das geschah auch Haft, von dessen Familie nur einer seiner Brüder der Vernichtung entkommen ist. Wenn Levinson die Lokale zeigt, in denen Jiddisch gesprochen wird, in denen traurige europäische Lieder gesungen werden und für kurze Momente die Atmosphäre eines osteuropäischen Schtetls wiederaufersteht, dann gehen in solche Szenen spürbar auch die persönlichen Erfahrungen des Regisseurs ein. Levinson, Sohn russisch-stämmiger Juden, wuchs zu jener Zeit, in den vierziger und fünfziger Jahren in der Ostküsten-Hafenstadt Baltimore auf, zwischen New York und Washington, und hat seiner Kindheit in vier autobiographischen Werken – American Diner, Tin Man, Avalon und Liberty Heights – zwischen Nostalgie und Realismus ein Denkmal gesetzt: Filmkonsum im Provinzkino, das Treffen der Jugendlichen im »Bryce Hilltop Diner«, Gespräche über Rock'n'Roll und Football Teams – alles scheint in diesen unbeschwerten Filmen wichtiger, als ein Schulabschluss, beruflicher Erfolg und finanzielle Sicherheit.
Der letzte in dieser Reihe, Liberty Heights, war auch die erste Filmrolle für Ben Foster, der hier in außergewöhnlicher Verwandlungsbereitschaft die Herausforderung exzellent meistert, eine Figur über ein Vierteljahrhundert und zwischen der körperlich versehrten Statur des abgemagerten Häftlings und dem Kraftpaket des Schwergewichtsboxers zu spielen.
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Er ist irgendwie auch ein Italoamerican, ähnlich wie Paul Schrader und Harvey Keitel und genauso wie diese beiden anderen ist er natürlich keiner. Aber seine Filme haben in ihrer Fixierung auf Männerwelten und ihrem nostalgischen, zugleich sozialanalytischen Zug eine seltsame Verwandtschaft zu denen von Scorsese und nicht ganz zufällig hat Barry Levinson immer wieder Robert de Niro und Al Pacino und Danny DeVito besetzt.
Levinson, als Sohn eines Geschäftsmannes wohlbehütet im Schoß einer wohlhabenden Großfamilie aufgewachsen, gehört zu den spannendsten Autorenfilmern der 80er und 90er Jahre: Seine größten Erfolge feierte Levinson mit Rainman, später dann mit Bugsy und dem Thriller Enthüllung. Mehr und mehr wurden Levinsons Filme politisch: So etwa 1998 Wag the Dog, eine sarkastische Komödie über politische Manipulation, als man am Ende der Clinton-Ära noch Lust hatte, Witze über Politik zu machen.
Nach vielen Jahren kommt jetzt wieder einer der auch zwischendurch regelmäßig entstandenen Filme Levinsons ins deutsche Kino: The Survivor verbindet Historie und Politik mit Persönlichem, der jüdischen Geschichte im 20. Jahrhundert und dem Trauma der Shoah, sowie der Generation New Hollywoods, der Levinson gerade noch angehört.
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Levinson zeigt, wie seine Hauptfigur als der »Held, der Auschwitz überlebt hat« von der Presse vermarktet wird, was ihm einerseits widerstrebt, er aber doch befördert, weil er nur so eine Chance sieht, bekannt zu werden, mit seinem Namen in die Zeitung zu kommen und die Chance auf einen Kampf gegen Rocky Marciano zu erhalten. Denn der eigentliche Grund, warum Harry Haft weiterhin boxt, ist, dass er so der Welt mitteilen kann, dass er überlebt hat. Und nur so hofft, seine Jugendliebe Leah wiederzufinden.
The Survivor ist ein Film über solche »Deals« und mehr als einen »Pakt mit dem Teufel«. So wie Haft im Lager in einer prägnanten Szene das Angebot seines SS-Beschützers mit einem Handschlag besiegelt, tut er dies später mit dem Angebot des Sportjournalisten Emory Anderson (gespielt von Peter Sarsgaard) und mit Marcianos eigenem Trainer Charlie Goldman (gespielt von Danny DeVito), der ihn kurioserweise auch trainiert, ihm aber immer klarmacht, dass er »nicht
gewinnen kann, sondern nur überleben«, schon weil Marcianos Kämpfe von der Mafia verschoben wurden. Alle diese Verträge werden eingehalten und von beiden Seiten erfüllt.
So ist dies auch ein Film über das Verhältnis zwischen Freiheit und Zwang. »Man hat immer eine Wahl« – dies sagt Harry ausgerechnet sein SS-Beschützer. So weist der Film damit auf die Konsequenzen einer Situation hin, in der es nur ums individuelle Überleben geht. Levinson knüpft zugleich an Sartres provokative
Zuspitzung in dessen »Überlegungen zur Judenfrage« an, nach der der Mensch selbst im KZ frei sein konnte.
Damit zusammen hängt die zweite zentrale Frage, die einen Roten Faden des Films bildet: »Warum haben sich die Juden nicht gewehrt?« Der Film zeigt, wie schwer es war, sich zu wehren. Zugleich zeigt er Haft als einen, der sich tatsächlich gewehrt hat, der dabei wortwörtlich über Leichen gehen musste, und dafür unser aller Mitleid verdient – und zugleich sein Leben lang
verfolgt wird.
The Survivor ist eine fesselnde, herausragend inszenierte Studie über die Kunst des Überlebens und deren Preis, über den Wunsch, kein Opfer zu werden, und über die Opfer, die das Überleben um jeden Preis kostet.
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Der erwähnte Teufelspakt berührt auch die Frage, ob das Kino Bilder von der Shoah machen kann und zeigen darf, ohne dass es obszön wird, ohne ein Tabu zu verletzen. Gibt es hier ein Bilderverbot? Lässt sich die Vernichtung in Bilder fassen, und fiktionalisieren?
Levinson dringt hier nicht tiefer ein, aber dass er sich der Probleme bewusst ist, zeigt sein Umgang. Manchmal streift er die Grenze des Spekulativen, aber er streift sie eben nur und nicht mehr als Spielberg in Schindlers Liste.
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Levinsons Regie ist klassisches Hollywood, ein Film über eine abgründige Variante des »American Dream« – vom KZ-Häftling zum Sport-Star; die öfters berührte Grenze des Melodramatischen wird dabei nie überschritten, jeder »Holocaust-Kitsch« dezent vermieden – oder manchmal auch durch sehr realistische »böse« Bilder drastisch durchkreuzt.
Neben den Darstellern, die bis in Nebenrollen ausgezeichnet sind, sticht auch die sehr besondere Lichtsetzung und Kamerarbeit George Steels hervor. Die digitalen Bilder sind trotz des Themas von nostalgischer Schönheit durchtränkt, und von analogem Technicolor nur für Experten zu unterscheiden. Alles atmet den Flair einer vergangenen Epoche.
Zugleich meint es Barry Levinson ernst mit diesem Film. Sehr geschickt verhält er sich zu den vielen anderen Werken zur Shoah, gewinnt dem durch seine ungewöhnliche Geschichte ganz eigene Seiten ab und durch das Boxer-Sujet eine Reverenz ans italoamerikanische späte New-Hollywood-Kino – Scorseses Raging Bull –, dem sich Levinson immer wahlverwandtschaftlich verbunden fühlte.
Am Ende des Films hört man eine Sängerin auf Jiddisch »God Bless America« anstimmen. Vielleicht der einzige Moment, in dem der Film doch zum Kitsch gerinnt. Aber wer hätte dazu auf der Welt mehr Recht als jüdische Überlebende, denen die USA Zuflucht boten. Auch hier meint es Levinson ganz ernst.