USA/I 2018 · 152 min. · FSK: ab 16 Regie: Luca Guadagnino Drehbuch: David Kajganich Kamera: Sayombhu Mukdeeprom Darsteller: Dakota Johnson, Tilda Swinton, Mia Goth, Angela Winkler, Ingrid Caven u.a. |
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Erinnerung an die Dekade der Ambiguität |
»Never be afraid to doubt, if only you have the disposition to believe, and doubt in order that you may end in believing the Truth.«
Samuel Taylor Coleridge: 'Aids to Reflections'
Es ist Herbst in Deutschland, im geteilten Berlin des Jahres 1977. Es sind die intensivsten, erregendsten Tage dieser Dekade, denn gerade eskaliert in den Nachrichten die Schleyer-Entführung mit dem Highjacking der »Landshut«-Maschine... Draußen gibt es bei schlechtem Wetter Demos für die RAF.
Patricia, gespielt von Chloë Grace Moretz betritt die Praxis eines Psychoanalytikers, der Klemperer heißt (der Name kann nicht zufällig sein), sie summt »Should I stay or should I go?«,
und berichtet von Hexen. Der Doktor notiert: »Simulacrum«. Also je nach Verständnis des Begriffs eine »Täuschung«, ein Phantom. Oder: »Eine Lüge, die eine Wahrheit ist«. Oder: Aufhebung von Abbild und Realität, also der Unterscheidung von Kopie und Original. Das darf man durchaus auch auf diesen Film selbst beziehen, der jene Unterscheidung aufbricht.
Auf dem Tisch werden Bücher erkennbar, über die Freimaurer, und C.G. Jungs »Die Psychologie der Übertragung« und Ernest Jones: »Zur
Psychoanalyse der christlichen Religion«. Patricia erträgt keine Blicke, keine Bilder mit Augen, flieht die Praxis, wird nicht mehr gesehen. Später heißt es über sie, sie sei labil gewesen, und ein Teil der linken Weltverbesserer.
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Regie führte der Italiener Luca Guadagnino, der in der Regel ein sehr unitalienisches Kino macht. Zuvor hat er die Filme A Bigger Splash und Call Me by Your Name gedreht. Suspiria ist nun das Remake des gleichnamigen Horrorfilms von Guadagninos Landsmann Dario Argento – obwohl man den Film nicht »Remake« nennen möchte, sondern »Neuinterpretation«. Er ist eine halbe Stunde länger als der Vorgänger, und spielt in genau dem Jahr, in dem Argento seinen Film machte.
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Dazu ein Exkurs: In Venedig traf ich vor und nach der Premiere Kollegen, die in den Film nicht hineingehen wollten. Einmal hörte ich die Begründung: »Ich gehe da nicht rein. Wenn ich schon lese, dass der Film länger ist als sein Original, kann er nix sein.« So ein Quatsch! Es geht schon damit los, dass es hier kein Original gibt. Und überhaupt im Kino so wenig wie im Theater. Keine »Hamlet«-Inszenierung ist ein Original, sondern die Variation eines Stoffes, in diesem Fall einer Vorlage
von Shakespeare, aber oft ganz frei. Ist Heiner Müllers »Hamletmaschine« ein Remake? Natürlich nicht. Sind Michael Almereydas Hamlet oder Kaurismäkis Hamlet goes Business oder Helmut Käutners Der Rest ist Schweigen Remakes von Laurence Oliviers Hamlet, oder von Shakespeare?
Mich haben schon immer, schon früher in München, diejenigen unter meinen Kollegen am meisten genervt, die mir, wenn ich begeistert aus dem Kino kam, erklären wollten, der Film sei ja nur ein schwacher Abklatsch eines Films, der erst vor gerade mal zwölf Jahren im Filmmuseum gezeigt wurde. Oder das Remake eines 30 Jahre alten japanischen Films, der
selbstredend viel besser sei. Schon deswegen, weil ihn niemand kannte, außer dem, der jetzt davon anfing. Abgesehen davon, dass derartiges pseudoabgeklärtes Gerede nur zu schnöden Distinktionsgewinnen taugt, glaube ich, dass Originalitätsfetischismus sowieso Unsinn ist. Ein Original ist nicht besser, weil es ein Original ist.
In einem gewissen Sinn, und spätestens dieser Suspiria-Film sollte uns das lehren, gibt es überhaupt kein Original. Siehe oben:
»Simulacrum«. Jeder Film, jedes Kunstwerk ist die Kopie von irgendetwas anderem. Wenn es kein Film ist, dann ein Buch, ein Theaterstück, ein Gemälde, eine Ansammlung von Bildungsschätzen, von Hirngespinsten. Mindestens die Kopie eines bestimmten Hirnareals des Machers, das dieser selbst nicht wiedererkennt. Kunst ist Vernetzung, ist ein sich selbst steuerndes System, gerade auch den Machern selbst verschlossen.
Andererseits: Der derzeitige Hang, von allem und jedem ein
Remake zu machen, ist natürlich ätzend und armselig. Alldem liegt vor allem Gedankenfaulheit und Phantasiearmut zugrunde, und das Sicherheitsdenken der in den Medienkonzernen herrschenden Controller. Und sehr oft ist hier der neuere Versuch tatsächlich viel schlechter.
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Guadagninos Suspiria hat »sechs Akte, und einen Epilog« und dreht sich in Form eines prachtvollen, wohldesigneten Bilderteppichs und in leuchtendem tiefen Argento-Rot um eine weltberühmte Tanz-Compagnie, die von einer Gruppe älterer Frauen im Matriarchat regiert wird. Suzie (Dakota Johnson), eine junge Amerikanerin, bewirbt sich und entpuppt sich als geniale Tänzerin. Doch alsbald häufen sich die Merkwürdigkeiten und manches scheint darauf hinzudeuten, dass es bei dem Frauen-Bund übernatürlich zugeht. Hexen möglicherweise?
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Tanz im Film lässt mich immer etwas ratlos. Deswegen habe ich zu den Tanzszenen des Films weiter nichts zu sagen, empfinde das aber als Mangel. Wer mehr übers Tanzen im Film nachdenken und nachlesen will, kann das in der neuesten Ausgabe, No.16, von »Nach dem Film« tun – die ist aber vom Februar 2018, also zu früh für Suspiria. Und über den alten Film steht da leider auch nichts.
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Tilda Swintons Figur weiß: »There are two things, dance can never be again: beautiful and cheerful. Today we need to break the nose of any cheerful thing.« Das mag für Kunst überhaupt gelten.
Swintons Figur lehrt: »To kill our beliefs.« Das Stück heißt »Wiederöffnen«. Wann wurde geschlossen? Tanz sei »poems, prayers, spells«.
»I want to start work on a new piece. A piece about rebirth. But Suzie, you will improvise freely at its heart. I am interested in your instincts here. Allez!«
Suzie soll also improvisieren. Ihre Instinkte sind von mörderischer Gewalt. Ein Spiegelraum (das Spiegelstadium??) wird zum Ort der Vernichtung.
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Es schneit im Oktober und sieht schön aus. Im Hintergrund von allem, was hier geschieht, begleiten uns konstant Verweise auf den Deutschen Herbst, auf die Schleyer-Entführung, die Landshut-Entführung. »Klaus Croissant« steht in der Zeitung. Der »Spiegel« titelt: »Terror«. Verweise streifen Ereignisse: 1937, 1943 und 1977. Es wird im Dialog erwähnt, dass der entführte Hanns Martin Schleyer SS-Mitglied war, und Filmfiguren empören sich darüber, dass ein SS-Mann auch 32 Jahre nach Hitlers
Selbstmord als Chef des deutschen Industriellen-Verbandes tätig sein konnte. So wird deutlich: Schleyer war kein gewöhnliches Opfer, und ohne Verbrechen zu entschuldigen, ist verständlich, warum die Wahl der RAF auf Schleyer fiel, nicht auf andere.
Ich mag diese Verweise, und mag es, dass die Eskalation des Films just in jener Nacht sich ereignet, in der Schleyer hingerichtet wurde. Kein Zufall.
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»What do you wish?« – »To die, I want to die«. Das sind Seventies-Kommentare, es geht um innere Gruppendynamiken, Abschottung, um Bünde: Sekten, Nazis, RAF, die Parallelisierung kann man dumm finden, es ist aber kein Gleichsetzen hier, sondern ein kaleidoskopisches Nebeneinander.
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Suspiria ist ein Horrorthriller, bei dem Dämonisches und Unheimliches immer ein Spiegel von Tatsachen ist: Ob die Massenmorde der Nazi-Zeit, ob RAF-Terror und gesellschaftliche Paranoia, ob das kollektive Unbewusste der westlichen Gesellschaften, ob die Psychoanalyse des Mütterlichen – auf allen Ebenen kommt das Verdrängte zurück und entfaltet seinen Schrecken.
Der hexenartige Frauen-Bund ist für den Regisseur vor allem eine
Folie, auf der er sehr schlau von fehlgeleiteten Gruppendynamiken erzählt und von kollektivem Wahn. »Mutter Markos, Mutter Meinhof«, sagt Ingrid Caven.
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Alles ist sehr frei, sehr schön. Ich mag, wenn Ingrid Caven singt »Guten Abend, gute Nacht«. Mir gefallen Sätze wie »Why is anyone so ready to think, the worst is over?« Und: »We need guilt and shame.«
Im Showdown in jenem leuchtenden tiefen Rot heißt es »Death to any other mother.« Nur zu!
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Der Titel bedeutet »Seufzer«, und bezieht sich auf die »Mutter des Seufzens«, die in Argentos Mütter-Trilogie, nicht aber in christlich-alteuropäischem Kulturgut verankert ist.
Was ich an dem Film so großartig finde, ist wie er intellektuell komplizierte Konzepte – das »Simulacrum« Baudrillards, die »Überschreitung« Batailles – in sinnliche Gestalt verwandelt.
Insgesamt ein anregender, schöner Film, auf den sich die Argento-Jünger und Puristen der
Vergangenheit aber nicht einlassen. Interessanter ist, genau das zu tun.
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Frauen, Mütter, Hexen – diese Hexen sind in Suspiria doppelt und dreifach konnotiert: Sie stehen für die bundesrepublikanische Moderne, für den »Kapitalistischen Realismus«, wie er sich in den Werken Gerhard Richters und Sigmar Polkes zeigt. Wenn Ingrid Caven, Angela Winkler, Renée Soutendijk und Tilda Swinton hier als Hexen auftreten (dazu Fred Kelemen in einem lustigen Kurzauftritt als West-Berliner Polizist), dann nicht nur weil wir diese Darstellerinnen gerne sehen. Sondern weil sie wie Ikonen und wandelnde Zitate für bestimmte Filme von Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff, Paul Verhoeven und Christoph Schlingensief stehen.
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Zudem dürfen wir beim Modern Dance zuerst an Pina Bausch denken, also wieder BRD-Moderne, dann auch an Mary Wigman und Martha Graham. Es wird überdies deutlich darauf verwiesen, die Dance-Compagnie habe im Dritten Reich Widerstand geübt, bzw. ausgehalten und überlebt.
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Also: Frauenmacht steht hier gegen Männermacht, Hexen gegen Nazis – in einem ganz prinzipiellen Sinn. Die Taten der Hexen werden zu den Taten der RAF, werden zu einem Akt des Widerstandes, auch des symbolischen, gegen das Überleben der Nazi-Macht in Gestalt westdeutscher Wirtschafts- und Beamteneliten. Oder wie es die Kollegin Beatrice Behn in ihrer bemerkenswerten, sehr lesenswerten Kritik zu Suspiria mutig formuliert: Die
»Taten der RAF und der damit verbundenen teils radikalen Aufarbeitung der Kriegsverbrechen der Nazis.«
Das was in der Tanzschule geschieht, ist ein Spiegel der äußeren Verhältnisse, nicht umgekehrt. So wie die Mütter laut einer Inschrift, die im Film früh zu sehen ist, den Platz aller anderen einnehmen können, aber selbst unersetzlich und unaustauschbar sind. Ein Simulacrum.
Diese Hexen sind vor allem Feministinnen. Es geht um das Recht von Frauen, genau das Gleiche tun zu
können, wie Männer. Sie dürfen frei sein, sie dürfen töten, sie dürfen lieben.