Deutschland 2019 · 125 min. · FSK: ab 12 Regie: Nora Fingscheidt Drehbuch: Nora Fingscheidt Kamera: Yunus Roy Imer Darsteller: Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriela Maria Schmeide, Lisa Hagmeister, Melanie Straub u.a. |
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Bemerkenswerter »Systemfilm« |
Die neunjährige Bernadette, die ihren Namen nicht mag und deswegen von allen nur »Benni« genannt wird, befindet sich aufgrund ihrer unberechenbaren Aggressionen in einer Dauerschleife zwischen den Institutionen der deutschen Kinder- und Jugendhilfe – die Mutter ist überfordert, der Vater nicht präsent, Betreuer und Ärzte können nicht nachhaltig weiterhelfen. Kann dieser junge Mensch es schaffen, dieser sich selbst nährenden Abwärtsspirale zu entkommen?
Erfrischend, dass der Film nicht einfach uninspiriert »Benni« genannt wurde, sondern sich im Titel neben weiteren Bezügen auch der erzählerische Vibe transportiert. Der Film macht aber noch viel Wesentlicheres richtig, was im deutschen Film oft falsch gemacht wird: Es ist ein Film mit einem klaren sozialpolitischen Thema, der nicht automatisch zum reinen Thesenfilm mutiert. Die Figuren und deren Beziehungen sind der Regisseurin viel wichtiger als eine kalkulierte Gesellschaftskritik. Emotional erzählen heißt nicht automatisch falsches Pathos.
Begeistert wie erstaunt reibt man sich die Augen angesichts dessen, wie mühelos hier Erzählperspektiven gewechselt werden, wie viele unberechenbare Haken der Plot schlägt (die dynamische Kamera von Yunus Roy Imer schlägt diese gleich mit) und wie immer wieder situative Komik durchbricht.
Wann hat man im deutschen Kino zuletzt eine solch wuchtige Kinderperformance gesehen? Helena Zengel trägt mit ihrer Urgewalt den gesamten Film. Hervorzuheben ist auch Albrecht Schuch als
Schulbegleiter Michael, der den Film im Mittelteil mit seiner starken Präsenz erdet.
Es ist ein bemerkenswerter »Systemfilm« in dem Sinne, dass er an einer Filmhochschule mit Beteiligung öffentlicher Förder- und einer Sendeanstalt entstanden ist, ohne dass ihm im Prozess seiner Realisierung sämtliche Kanten abgeschliffen worden wären. Dies ist ein tolles Beispiel dafür, was hierzulande möglich ist, wenn alle Beteiligten Mut zum Risiko und Experimentierfreude zeigen.
Lange Zeit wird glücklicherweise auch nur in Andeutungen psychologisiert. Dann aber begeht der Film den kapitalen Fehler, den für seinen Ausgang entscheidenden Wendepunkt über das Fehlverhalten einer äußerst schwach konstruierten Figur zu erzählen: Bennis Mutter, die von der Figurenanlage übers Kostüm bis hin zum Spiel als Einzige in diesem Ensemble geradezu grotesk überzeichnet ist. Das Psychologisieren übernimmt kurz, aber heftig das Ruder. Von dieser Plotverirrung erholt sich der Film nicht mehr. Der gesamte dritte Akt ist in der Folge redundant, wirkt wie seine eigene Zeitschleife. Also dann doch ein übrig gebliebenes Problem des deutschen Films: der schwierige, oft ungelenke Ausstieg aus der Geschichte.
Dennoch: Der Film ist ein früher Höhepunkt der diesjährigen Berlinale und zwei Akte lang ein kleines Wunderwerk, welches das System des deutschen Films zumindest für einen kleinen Moment erschüttern sollte. Ist es da nicht konsequent, dass er am Ende auch sein eigenes narratives System sprengt?
Es kracht und knallt von Anfang an. Der Kracher und Knaller heißt Benni, eigentlich Bernadette, aber diesen Namen mag sie nicht so. Also Benni.
Ein Dutzend Kinderbobbycars aus Plastik knallt Benni eines nach dem anderen gegen die Fenster des Jugendheims, in dem sie wohnt. Gern würde man sich Benni, die überall, wo sie ist, die Welt im Nu in ein kunterbuntes Chaos verwandelt, als Wiederauferstehung von Pippi Langstrumpf vorstellen, die in und außerhalb ihrer Villa Kunterbunt
sich die Welt baut, wie sie ihr gefällt. Das tut auch Benni, aber so fröhlich, friedlich ist das alles leider nicht.
Denn Benni, die neun Jahre alt ist, bald zehn wird, wurde als Kind schwer traumatisiert. Sie kann nichts dafür, aber wenn sie wütend wird, springen alle Sicherungen raus, und auch kein Erwachsener kann sie mehr halten. Manchmal ist sie wie andere Kinder, traurig und unsicher, aber manchmal müssen auch Erwachsene Angst vor ihr haben. Denn Benni kennt zwar die Regeln, aber
wenn sie austickt, wird sie blind für sie. Wenn man sie ins Gesicht fasst zum Beispiel, das muss jeder als erstes lernen, kennt sie gar kein Halten.
Benni ist ein Systemsprenger, sie ist die Hauptfigur in dem gleichnamigen ersten von drei deutschen Filmen im Wettbewerb der Berlinale und nach einem bestenfalls belanglosen Eröffnungsfilm gleich ein erster kleiner Höhepunkt im Rennen um die Preise.
Der Begriff »Systemsprenger« ist kein offizieller Begriff aus dem Wörterbuch der Sozialfürsorge. Er ist aber auch nicht verboten, kein No Go, sondern ein Wort aus dem Alltag der Praktiker. Aus deren Sicht funktioniert das System mit seinen Untersystemen, nur für die paar wenigen nicht, die in gar keines hineinpassen. Wie Benni.
All das ist im Grunde von Anfang an klar, und wenn man etwas an dem großartigen Spielfilmdebüt der 36-jährigen Hamburgerin Nora Fingscheidt
kritisieren muss, dann am ehesten dies: Dass der Auftakt derart stark ist, die Hauptfigur von der großartigen Kinderdarstellerin Helena Zengel so wuchtig und unvergesslich gespielt, dass gegenüber diesem Anfang, der Setzung von Figur und Geschichte, alles was folgt, wie eine Fußnote wirkt und die erste Skizze vor allem ausmalt und verästelt, sich aber nichts wirklich entwickelt.
Denn das System kann denen, die es sprengen, nicht helfen.
Auch Micha kann nichts tun. Ein
Jugendpfleger, der sich besonders engagiert, so sehr, dass er aufpassen muss, keine Rettungsphantasien für Benni, die er liebevoll »Kampfzwerg« nennt, zu entwickeln.
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So erleben wir über zwei Stunden, wie hier ein junger, überdurchschnittlich intelligenter Mensch immer wieder gegen alle möglichen Wände läuft, von denen er sich viele selber gebaut hat, und doch nichts dafür kann, dass es nicht klappen will.
In einem halben Dutzend Einrichtungen war Benni schon, in Pflegefamilien – nichts zu machen. Früher oder später passiert etwas. Sie gilt als kleines Monster. 37 Institutionen haben sie abgelehnt, so wird es weitergehen, bis sie 14
ist. Dann kommt sie in »die Geschlossene«.
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Systemsprenger ist ein sehr guter, und oft schöner Film, der zugleich zum Verzweifeln ist. Sehr interessant ist auch die Regisseurin, die in Ludwigsburg studierte. Klug, genau und engagiert gewann Nora Fingscheidt mit jedem ihrer Studentenfilme Preise und Anfang des Jahres lief ihr Debüt im Berlinalewettbewerb.
Er passt fast zu gut: Denn dieser Film ist genau das, was die Berlinale dieser Jahre gern zeigte: Ein Film – und dann noch von einer jungen deutschen Frau – über ein Thema, das relevant ist, persönlich und sozialpolitisch zugleich, und der immer auf der richtigen Seite der wohltemperierten, bürgerlichen Gesinnung steht.
Humor hat er wenig, wie auch bei diesem Thema, aber richtige Überraschungen auch nicht. Stilistisch ist er sehr dynamisch und anteilnehmend
gefilmt, eine Achterbahnfahrt.
Systemsprenger ist aber zugleich weit mehr als die Illustration eines Problems, dessen sich Ministerien und Institutionen annehmen sollten, oder ein Film über das Versagen eben dieser Institutionen und Politiker.
Es ist eine sehr persönliche, sehr spannende Geschichte. Und sehr human.
Mit der Zeit begreift man: Es mag sein, dass Benni auf Erden kaum zu helfen ist. Das System aber braucht Systemsprenger. Denn Benni ist unter anderem auch ein Medium. Sie holt aus uns all das heraus, was in uns steckt.