Australien 2011 · 83 min. · FSK: ab 0 Regie: Bryan Mason, Sophie Hyde Drehbuch: Bryan Mason, Sophie Hyde Musik: Tyson Hopprich Kamera: Bryan Mason Schnitt: Bryan Mason |
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Tanja Liedke |
„Wo ist Tanja Liedtke?“, fragt jemand hinter der Kamera. Das Teenager-Mädchen auf dem Gang zuckt teilnahmslos mit den Schultern. Doch schnell ist die Suche beendet. In ihrem Spind zusammengekauert wartet Tanja darauf, von der Kamera gefunden zu werden. Nur wenige Momente dauert es, bis sich das schlanke Mädchen mit Zahnspange und Brille lachend aus dem Kasten schälen kann.
Viele Jahre später wird dieses auf Video gebannte Ereignis wiederholt: Diesmal mit zwei Metallschränken auf einer Bühne, der eine liegend, der andere stehend, sie gleichen Eiern, aus denen sich zwei Tänzer kraftvoll befreien. Let the show begin.
Dies ist die Anfangsszene aus „Twelfth Floor“, dem ersten abendfüllenden Werk der Choreografin und Tänzerin Tanja Liedtke, aus dem Jahr 2004. Es folgten erfolgreiche Tourneen und Arbeiten mit anderen Kompanien, die Presse
überschlug sich vor Lob. 2007 sollte die erst 29-jährige Liedtke die Leitung der Sydney Dance Company übernehmen. Doch ein tödlicher Verkehrsunfall setzte der Karriere des Shootingstars des modernen Tanztheaters ein jähes Ende, noch bevor sie richtig beginnen konnte. Tanja Liedtke aber, dieser unerschöpflich scheinende Quell an Ideen, sprudelt weiter – in denen, die sie zurückließ. Dies dokumentiert Tanja – Life in Movement von Bryan Mason und
Sophie Hyde.
Es ist ein Tanzfilm, eine Hommage an die in Deutschland geborene Kosmopolitin – aber vor allem ist es ein großartig komponiertes Nachdenken über schöpferische Kraft und Inspiration, die, einem unverwundbaren Erreger gleich, auf den Nächsten überspringt und sich postum fortpflanzen kann. All dies steckt in jedem einzelnen Bild des 79-minütigen Films – ob im Archivmaterial aus Liedtkes Jugend, in Aufnahmen, die während der Proben und der Aufführungen ihrer brisanten, kraftvollen und zugleich witzigen Stücke gemacht wurden oder in den zahlreichen Statements, die von ihr selbst, den Mitgliedern ihres Ensembles und anderen Weggefährten stammen. Ohne sich zu verzetteln, aber in bemerkenswerter Dichtheit folgen die beiden Filmemacher dabei voll und ganz einem Strukturprinzip von Tanja Liedtke: So wie sie in ihrer zweiten Langchoreografie „Construct“ jene Lebensprozesse und deren Resultate darstellt, zeigen Mason und Hyde die Genese von Ideen und ihre Wirkung – nicht chronologisch, in ihrem Aufbau jedoch immer klar, spannend und vielschichtig.
Bestürzend sind die Parallelen: Das Schicksal Tanja Liedtkes, die kurz davor war, zu einer Weltberühmtheit des Tanztheaters zu werden, ähnelt dem von Choreografie-Legende Pina Bausch, die zwei Jahre nach ihr starb: Beide Frauen, die lieber zeigen als darstellen wollten, riss der Tod plötzlich aus der Produktivität. Und sowohl Liedtkes Ensemble als auch das Bausch’sche Tanztheater Wuppertal verharrten zunächst in Schockstarre. Wie soll es weitergehen für verwaiste Tänzer, denen man, wie es Liedtkes Lebens- und Arbeitsgefährte Solon Ulbrich formuliert, „den Pfad weggenommen hat“? Weitermachen, so die Antwort in beiden Fällen. Für Tanja Liedtkes Kompanie bedeutete dies: Eineinhalb Jahre nach dem Tod der Leiterin mit ihren Stücken auf Welttournee gehen, deren Beginn, Verlauf und Ende auch den thematischen Rahmen für Tanja – Life in Movement absteckt. Die Trauerarbeit der Kompaniemitglieder bestimmt die Dramaturgie des Films mit. Anweisungen von Kollegen treten anstelle der Vision der Macherin, manche verlassen das Ensemble, weil das Leben ihnen eine andere Perspektive bietet oder sie in dem „Erbe, das sie in ihren Körpern bewahren“ – so ein Mitglied des Ensembles – letztendlich keine Weiterentwicklung mehr erkennen können. So mag das Ende der Tournee in Stuttgart für viele Menschen im Publikum ein beeindruckender Theaterabend gewesen sein – der Dokumentarfilm zeigt ihn als eine Art intimer Beisetzung.
Die Widmung am Ende des Films fasst in Worte, was die ganze Zeit über spürbar war. Auch die Macher, die die Choreografin 2004 kennenlernten und filmisch begleiteten, sind Trauernde. Und haben es damit doppelt schwer, scheitert doch so manches Künstlerporträt an der Nähe des Machers zum Protagonisten. Zu eindimensional werden Fragestellungen, interessante Nebenschauplätze, die problematisieren oder Konflikte offenlegen, nicht selten übersehen. Stirbt die befreundete Hauptperson während der Entstehung des Films so wie hier, ist die Gefahr, dass das Porträt zur weinerlichen Lobhudelei wird, nicht nur gegeben – sie wäre auch zutiefst verständlich. Dieser Falle entkommen Hyde und Mason jedoch, indem sie, wie die Tanzkompanie, ihr Erbe antreten. So bringen sie die eigene, filmische Leidenschaft in die Wirklichkeit, ohne sich von ihren Emotionen überwältigen zu lassen, sondern machen sich diese dienstbar als Werkzeug im eigenen Schaffens- und Trauerprozess. Good job, Tanja!